Die Musik von Lisa Streich ist zugleich ernst und verspielt, kraft- und bedeutungsvoll, süß und bitter, körperlich, grausam und zart. Das zeigt auch PIETÀ, komponiert zunächst für motorisiertes Violoncello und Elektronik (2012 am Pariser IRCAM realisiert) und später in einer erweiterten Fassung für motorisiertes Violoncello und Ensemble (2015) für das Kölner Kammerensemble hand werk. In der Ensemblefassung ist das motorisierte Violoncello solistisch vor dem Ensemble exponiert, während die übrigen Musiker eine Reihe dahinter sitzen. Die Aufstellung um das in den Armen der Cellistin bzw. des Cellisten gehaltene Solo-Cello ähnelt der Figurendisposition auf dem Gemälde Pietà (1876) des französischen Malers William-Adolphe Bouguereau, das Streich während der Arbeit an ihrer Komposition in Paris kennenlernte und von dem sie den Figurenrahmen ohne das zentrale Geschehen als Titelbild für ihre Porträt-CD der Edition Zeitgenössische Musik wählte. Bouguereaus Gemälde zeigt im Hintergrund sich überlagernde Köpfe und Körper, die im Zentrum die aufrecht sitzende Maria umrahmen, wie sie den toten, nackten Jesus in den Armen hält und dem Bildbetrachter direkt in die Augen sieht.
Auf Streich machte dieses Gemälde großen Eindruck: «In Paris spürte ich zum ersten Mal, dass Männer und Frauen nicht gleichgestellt sind. In all den Kirchen sah ich eine Marienverehrung, doch gesellschaftlich herrschte eine Herabsetzung der Frau vor. Im nördlichen Europa dagegen sieht man nur tote Männer (Jesus), die Frau aber ist mehr oder weniger gleichgestellt. Das hat mich sehr beschäftigt. Zeitgleich lernte ich in der Pietà von Bouguereau das bis heute für mich einzige Gemälde kennen, in dem Maria eine Feministin ist.»
Wie in der Solofassung ist in der Ensembleversion von PIETÀ das Cello mit vier kleinen Elektromotoren auf f-Loch, Steg, Saitenhalter und Korpus präpariert. Beim Betrieb der Motoren rotieren langsam kleine Papier- oder Plastikstreifen, die dann auf den fraglichen Bauteilen des Instruments leise Schleif-, Schlag- und Flappgeräusche verursachen. Analog zur Pietà von Bouguereau wird das Instrument zu einem Alter Ego des leidenden Jesus, dessen Leib durch kleine Motoren traktiert und martyriumhaft gegeißelt wird. Den Einsatz von Motoren findet man des Öfteren in Streichs Werk, etwa in ZUCKER für motorisiertes Ensemble (2016) und SAFRAN für Violine und motorisiertes Klavier (2017).
Auf diese Weise entwickeln die jeweiligen Instrumente ein Eigenleben, das ihnen eine besondere Ausdruckskraft und Aura verleiht. Zudem schlägt der Cellist zu Beginn mit dem Bogenholz auf die Saiten, was sich dem Stücktitel zufolge ebenfalls mit der Passion Christi assoziieren lässt. Den Battuti kontrastieren sanfte ordinario-Bogenstriche ppp in höchster Lage sowie bei fast aufgehobenem Bogen- und Griffdruck zarte Flageoletts, mit denen das Instrument gleichsam gestreichelt und in seiner Verletzlichkeit gezeigt wird. Gleichzeitig ruft der Spieler über ein Fußpedal Max/MSP-Patches ab, vorprogrammierte Steuermodule, welche die Einsatzzeitpunkte und Einsatzdauern der Motoren rhythmisch exakt regeln, ohne dass sich der Spieler weiter darum kümmern muss. Zu dessen Orientierung sind die Motoreinsätze in der Partitur direkt unter der Solopartie notiert. Während der Cellist spielt, werden zu Anfang auch Steg und Saitenhalter seines Instruments von zwei Motörchen malträtiert. Die Mehrschichtigkeit verschiedener Spielweisen, Register und Aktionsorte wird dadurch noch stärker mehrstimmig aufgefächert. Wie von Geisterhand gewinnt der für sich genommen tote Cellokorpus ein ebenso geheimnisvolles wie maschinelles Eigenleben, das sich im Detail der Kontrolle des Cellisten entzieht. Im weiteren Verlauf ruft der Spieler der Reihe nach solche von 1 bis 27 durchnummerierten Steuersegmente ab.