Lisa Streich | PIETÀ

Lisa Streich

Über Komponistin und Werk

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Unterrichtsprojekt

von Stephanie Pladeck

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Material

Arbeitsblätter und Weiterführendes

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Eine Werkanalyse von Rainer Nonnenmann

Die Musik von Lisa Streich ist zugleich ernst und verspielt, kraft- und bedeutungsvoll, süß und bitter, körperlich, grausam und zart. Das zeigt auch PIETÀ, komponiert zunächst für motorisiertes Violoncello und Elektronik (2012 am Pariser IRCAM realisiert) und später in einer erweiterten Fassung für motorisiertes Violoncello und Ensemble (2015) für das Kölner Kammerensemble hand werk. In der Ensemblefassung ist das motorisierte Violoncello solistisch vor dem Ensemble exponiert, während die übrigen Musiker eine Reihe dahinter sitzen. Die Aufstellung um das in den Armen der Cellistin bzw. des Cellisten gehaltene Solo-Cello ähnelt der Figurendisposition auf dem Gemälde Pietà (1876) des französischen Malers William-Adolphe Bouguereau, das Streich während der Arbeit an ihrer Komposition in Paris kennenlernte und von dem sie den Figurenrahmen ohne das zentrale Geschehen als Titelbild für ihre Porträt-CD der Edition Zeitgenössische Musik wählte. Bouguereaus Gemälde zeigt im Hintergrund sich überlagernde Köpfe und Körper, die im Zentrum die aufrecht sitzende Maria umrahmen, wie sie den toten, nackten Jesus in den Armen hält und dem Bildbetrachter direkt in die Augen sieht.

Auf Streich machte dieses Gemälde großen Eindruck: «In Paris spürte ich zum ersten Mal, dass Männer und Frauen nicht gleichgestellt sind. In all den Kirchen sah ich eine Marienverehrung, doch gesellschaftlich herrschte eine Herabsetzung der Frau vor. Im nördlichen Europa dagegen sieht man nur tote Männer (Jesus), die Frau aber ist mehr oder weniger gleichgestellt. Das hat mich sehr beschäftigt. Zeitgleich lernte ich in der Pietà von Bouguereau das bis heute für mich einzige Gemälde kennen, in dem Maria eine Feministin ist.»

Wie in der Solofassung ist in der Ensembleversion von PIETÀ das Cello mit vier kleinen Elektromotoren auf f-Loch, Steg, Saitenhalter und Korpus präpariert. Beim Betrieb der Motoren rotieren langsam kleine Papier- oder Plastikstreifen, die dann auf den fraglichen Bauteilen des Instruments leise Schleif-, Schlag- und Flappgeräusche verursachen. Analog zur Pietà von Bouguereau wird das Instrument zu einem Alter Ego des leidenden Jesus, dessen Leib durch kleine Motoren traktiert und martyriumhaft gegeißelt wird. Den Einsatz von Motoren findet man des Öfteren in Streichs Werk, etwa in ZUCKER für motorisiertes Ensemble (2016) und SAFRAN für Violine und motorisiertes Klavier (2017).

Auf diese Weise entwickeln die jeweiligen Instrumente ein Eigenleben, das ihnen eine besondere Ausdruckskraft und Aura verleiht. Zudem schlägt der Cellist zu Beginn mit dem Bogenholz auf die Saiten, was sich dem Stücktitel zufolge ebenfalls mit der Passion Christi assoziieren lässt. Den Battuti kontrastieren sanfte ordinario-Bogenstriche ppp in höchster Lage sowie bei fast aufgehobenem Bogen- und Griffdruck zarte Flageoletts, mit denen das Instrument gleichsam gestreichelt und in seiner Verletzlichkeit gezeigt wird. Gleichzeitig ruft der Spieler über ein Fußpedal Max/MSP-Patches ab, vorprogrammierte Steuermodule, welche die Einsatzzeitpunkte und Einsatzdauern der Motoren rhythmisch exakt regeln, ohne dass sich der Spieler weiter darum kümmern muss. Zu dessen Orientierung sind die Motoreinsätze in der Partitur direkt unter der Solopartie notiert. Während der Cellist spielt, werden zu Anfang auch Steg und Saitenhalter seines Instruments von zwei Motörchen malträtiert. Die Mehrschichtigkeit verschiedener Spielweisen, Register und Aktionsorte wird dadurch noch stärker mehrstimmig aufgefächert. Wie von Geisterhand gewinnt der für sich genommen tote Cellokorpus ein ebenso geheimnisvolles wie maschinelles Eigenleben, das sich im Detail der Kontrolle des Cellisten entzieht. Im weiteren Verlauf ruft der Spieler der Reihe nach solche von 1 bis 27 durchnummerierten Steuersegmente ab.

Notenbeispiel:

Lisa Streich, PIETÀ für motorisiertes Violoncello und Ensemble (2015)

Abgesehen von einzelnen pedalisierten Pizzicati im Innenklavier setzt das Ensemble erst in Takt 33 ein, und zwar mit Tuttischlägen fortissimo und staccato. Zusätzlich scheppert der Schlagzeuger bei jedem Schlag mit einem Holzgriffel lautstark über ein Waschbrett. Gleichzeitig spielt das Cello mit hohem Bogendruck auf dem Steg molto sul ponticello (in der Partitur m.s.p.) perforierte Vorschläge, schnell auffahrende Arpeggien und Doppelgriff-Triller, als würde das Instrument unter den heftigen Tuttischlägen zucken. Indem der Cellist dabei jeweils decrescendiert und die Anstreichstelle sukzessive vom Steg in Richtung Griffbrett verlagert, entsteht der Eindruck, als erschlafften die Aufschreie. Ebenso sinkt bei jedem Einsatz die anfangs maximale Bogengeschwindigkeit der Streicher bis zum Stillstand ab. So wird die Tortur immer wieder kurz durch Erliegen, Nachlassen und schockhaft eintretende Stille (Generalpausen) unterbrochen. Dem forcierten Ensemble-Teil (während des gesamten Stücks lediglich 17 Takte Tutti) folgt ab Takt 60 eine zweite Solopassage des Cellos unter variierter Beteiligung der Motörchen auf f-Loch und Korpus. Vereinzelt gepresste Klänge scheinen sich dem Solo gleichsam als Wundmale eingeschrieben zu haben. Das Tonmaterial für ihre Komposition entlehnte Lisa Streich nach eigener Angabe – auch das ein Anzeichen für die doppelte Polung ihrer Musik in Trauer und Lebensfreude – dem alten jiddischen Lied Chiribim Chiribom, das unter anderem durch die Barry Sisters in den 1960er Jahren bekannt wurde. Mehrfach abgeleitet und transponiert ist das Lied jedoch nicht mehr zu erkennen.

Nach einer zweiten, nun jedoch ganz sanften Ensemblepassage ab Takt 90 mit liegenden Akkorden und achteltönigen Umfärbungen im vierfachen Piano bestreitet das motorisierte Cello ab Takt 98 – wie zu Anfang bloß von Pizzicati im Innenklavier flankiert – schließlich auch den Schlussabschnitt. Mit ununterbrochenem Springbogen (arco saltando perpetuo) verzweigt der Cellist Liegetöne zu halb- und vierteltönigen Dissonanzen. Indem er das Auf- und Zurückprallen des Bogens durch minimales Ziehen in Gang hält, überwiegt anstelle klarer Tonhöhen das repetitive Aufschlaggeräusch. Der Klang ist nun so zart wie der der Motörchen, die nun erstmalig alle vier zum Einsatz gelangen. Den Anfang macht der Motor auf dem Steg, der neun Takte lang ununterbrochen das Instrument je nach Sichtweise mit gleichbleibender Pulsation streichelt oder flagellantenartig peitscht. Schließlich spielen Cellist und Motörchen nur noch abwechselnd. Während der immer länger werdenden Pausen des Cellisten gibt das Instrument daher weiterhin wie von Geisterhand Klänge von sich, bis auch diese endlich vertröpfeln. PIETÀ ist eine höchst skurrile Mischung aus spielerischer Mechanik und der österlichen Passionsgeschichte. Das Stück bezeugt die doppelte Polung von Lisa Streichs Musikschaffen in Härte und Zartheit, Immanenz und Transzendenz, Leidenschaft und Versenkung. Diese Musik ist zugleich ernst und verspielt, kraft- und bedeutungsvoll, beseelt und mechanisch – mithin vielgesichtig wie das Leben selbst.


[Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.]

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