Lisa Streich, geboren 1985 in Norra Råda, Schweden, studierte Komposition und Orgel in Berlin, Stockholm, Salzburg, am Pariser IRCAM und in Köln, unter anderem bei Johannes Schöllhorn, Adriana Hölszky, Mauro Lanza und Margareta Hürholz. Zudem belegte sie Meisterkurse bei Chaya Czernowin, Brian Ferneyhough, Steven Takasugi und Beat Furrer. Aufgeführt wurden ihre Werke international von namhaften Interpreten wie dem Deutschen Symphonieorchester Berlin, Quatuor Diotima, ensemble recherche, Nouvel Ensemble Moderne, Ensemble Musikfabrik, Eric Ericsson Kammerchor und dem Schwedischen Radiochor. Lisa Streich ist verheiratet, hat zwei Kinder, und lebt mit ihrer Familie auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland.

Lisa Streich im Internet: www.lisastreich.se

Streich erhielt wichtige Musikpreise und Stipendien wie den Cité des Arts Paris, den Orchesterpreis des Anne-Sophie Mutter Fonds, den Busoni Förderpreis der Akademie der Künste Berlin, das Bernd Alois Zimmermann Stipendium der Stadt Köln, den Rom-Preis der Villa Massimo, ferner die Roche Young Commission des Lucerne Festivals, den Ernst von Siemens Komponisten-Förderpreis und das Stipendium im internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg.

Während der Spielzeit 2017/18 war sie Composer-in-Residence des ensemble recherche in Freiburg im Breisgau. Im April 2018 erschien im Rahmen der Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats eine ihrem Schaffen gewidmete Porträt-CD beim Label WERGO/Mainz. Eine zweite Porträt-CD erscheint 2019 in der Reihe der Ernst von Siemens Musikstiftung beim Label KAIROS/Wien.

Ästhetik

Gedanken zur doppelten Polung der Musik von Lisa Streich von Rainer Nonnenmann

Das kompositorische Schaffen von Lisa Streich umfasst Vokal-, Chor-, Solo-, Kammermusik-, Ensemble- und Orchesterwerke, ferner die Taschenoper …MIT BRENNENDEM ÖLE (2011) auf alt- und neutestamentliche Texte sowie elektronische Kompositionen und Stücke für elektronisch und mechanisch erweiterte Instrumente. Die Ausdruckskraft ihrer Musik verdankt sich klar gesetzten Materialien und hoch differenzierten Strukturen. Im Streben nach größtmöglicher Genauigkeit beim Notieren geht es der Komponistin um Wesentliches, was man ihren Werken auch ohne programmatische Titel, Textstellen in Partituren und Kommentare anmerkt. Wie penibel Streich ihre Klangvorstellungen fixiert, zeigt beispielsweise der Umstand, dass sie in der Regel acht Geschwindigkeitsstufen von 0, 0,5, 1, 2 bis 6 vorschreibt, mit denen etwa Streicher ihre Bogenführung zu gestalten, Harfenisten über die Saiten zu fahren oder Posaunisten mit ihren Zügen zu glissandieren haben.

Ein zentraler Charakterzug ihrer Musik liegt in der spannungsvollen Polung sowohl durch Spiritualität und existentielle Fragen als auch durch Profanes, Konkretes, Einfaches, Alltägliches. Oft fallen die Extreme von Übersinnlichem und Sinnlichem geradezu zusammen, indem sich das eine durch das andere vermittelt, das Himmlische geerdet, das Irdische himmlisch erscheint, wie die folgenden Ausführungen zeigen:

Den Titel ASCHE für Klarinette und Violoncello (2012) bezieht Lisa Streich mehrdeutig auf Verbranntes, die Fastenzeit oder profan-umgangssprachlich auf Geld. Umso eindeutiger gestaltet ist dagegen der Prozess der beidseitigen Annäherung des Blas- und Streichinstruments. Das auf der Bühnenmitte platzierte Cello und die möglichst weit rechts davon entfernte Klarinette spielen zunächst konsequent abwechselnd, so dass sich ihre kleinteilig ineinander greifenden Einsätze zu einer nahtlosen einstimmigen Kette verzahnen. Über alle klanglichen und räumlichen Distanzen hinweg bilden die beiden Instrumente so eine symbiotische Einheit in der Zweiheit. Durch verschiedene Streichgeschwindigkeiten, Mehrklänge und Unisoni in hoher Lage verschmelzen sie schließlich bis zur Ununterscheidbarkeit. Ihre Annäherung erzeugt sirrende Bebungen und Differenztöne, die sich physisch und durchaus quälend dem Gehör einschreiben. Gegen Ende spielen beide Instrumente unisono fortissimo eine Linie in höchster Lage, bei der die Klarinette aus den Einklängen heraus immer wieder bis zu einem Halbton absinkt, so dass es zu hochenergetisch flirrenden Schwebungen kommt. Gleichzeitig klingen die schnellen und druckvollen Bogenwechsel des Cellos kratzend-klirrend wie das Geräusch von auf Eis gleitenden Schlittschuhen. Nach diesen lautstarken und das Hören förmlich blendenden Klängen nimmt das Publikum dann während einer Generalpause und eines ruhigen, eigenwilligen vierstimmigen Satzes den eigenen Herzschlag und das Pfeifen in den eigenen Ohren wahr. Die Reduktion lenkt die Aufmerksamkeit des Hörenden von der Musik weg auf den Hörenden selbst.

In AGNEL für zwölfstimmigen Chor, Objekte, Knabenstimme und Elektronik (2013) überlagert Streich gegeneinander verschobene Einsätze zu sukzessiv sich auf- und wieder abbauenden Akkorden, schwankend zwischen Dur- und Moll-Dreiklängen, bitonalen Konstellationen und vierteltönigen Clustern [Notenbeispiel unten]. Silben aus der lateinischen Messliturgie "Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Dona nobis pacem" (Lamm Gottes, das du trägst die Sünde der Welt, erbarm dich unser. Gib uns Frieden) werden dabei so umgestellt und überlagert, dass neuartige Wortkompositionen oder unverständliche Sprachlaute entstehen. Weitere versprengte Silben "Glo", "Ky" und "ctus" beschwören die Messteile Gloria, Kyrie und Sanctus. Zusätzlich verschleiert werden Gesang und Worte durch diffus rauschendes Schmirgelpapier und über rostige Metallplatten knisternde Papierknäuel, die wie Stimmengeflüster oder schwirrende Insekten wirken und deren Einsätze ein separates Objekte-Notensystem über den Singstimmen vermerkt. Zentral sind schließlich die räumlichen Bedingungen des Hohen Doms zu Köln, für den Streich ihr kleines Agnus Dei komponierte, um die Aura, Stille und Nicht-Stille dieser riesigen Kathedrale erfahrbar zu machen. Als Referenz an Karlheinz Stockhausens frühe elektronische Raummusik "Gesang der Jünglinge" (1955/56), das bei der Uraufführung von PIETÀ ebenfalls im Kölner Dom erklang, lässt Streich Sinustöne, Sinustonschwebungen, zwei Knabenstimmen sowie Aufnahmen der Akustik eines anderen Raums zuspielen. So klingt in die Musik immer wieder etwas Fremdes, Anderes herüber. Analog zur Überlagerung von Chorgesang und Geräuschflächen durchdringen sich elektronisch generierte und reale Akustik vor Ort. Die Hörer erleben zugleich und im Wechsel verschiedene Zeiten und Räume, sowohl ganz lokal und diesseitig als auch fremd und transzendent.

In SEGEL für Orchester (2016–17) erscheint der großbesetzte Apparat mit dreifachen Holz- und vierfachen Blechbläsern, sechs Hörnern, fünf Schlagzeugern, Klavier, Harfe und fünfzig Streicher nur als ein Schatten seiner selbst. Sämtliche Spielweisen im Vierteltonraum wahlweise ordinario oder mit Bogenholz, Flageolett und auf dem Steg bewegen sich an der unteren Hörschwelle. Die Klänge sind fragil, schemenhaft, unkörperlich, flüchtig. Zudem werden sie je nach Angabe ♀ oder ♂ von den Musikerinnern bzw. Musikern leise mitgesummt, so dass eine gläserne, ephemere, sich ständig wandelnde Atmosphäre resultiert, in der nichts wirklich, aber alles möglich erscheint. Es entsteht ein Zustand der Leichtigkeit, des Noch-Nicht und ständigen Werden-Könnens. Überlagert werden die regelmäßigen Pulsationen im 5/4-Takt allerdings von umso heftigerem fff-Peitschenknallen der fünf Schlagzeuger, die das Orchester von hinten einkreisen und in Verbindung mit dem Abschnittstitel KREUZ an das Geschehen auf dem Hügel Golgata denken lassen. Im Abschnitt FLÜGELGESTALTEN lässt der Dirigent die Stimmgruppen nacheinander ein- und aussetzen, an- und abschwellen, so dass sicht- und hörbare Wellen durch das Orchester wehen wie Windböen durch ein schwankendes Ährenfeld. Gleichzeitig klirren Eierschneider und klingt kaum hörbar ein Walzer aus Streichs Ensemblestück ÄLV ALV ALVA (2012) an. Nach kraftvoll stampfendem Tutti-Gleichschritt GLEICHZEITIG dehnt der Schluss TRINITAS die zarte Streichersphäre des Anfangs zu größtmöglicher Ruhe. Auf der Schwelle von noch nicht und nicht mehr Klang balancierend, segelt das nun förmlich dematerialisierte Orchester vollends in anderen Gefilden.

 

Musiktheater

  • ...MIT BRENNENDEM ÖLE Taschenoper für 12 Instrumente, 5 Frauenstimmen und 5 Kinderstimmen (2011), 12'

Chorwerke

  • PREDELLA für 4 Chöre und Ensemble (2018), 13'
  • CIVIL SONG für 32 Stimmen (2018), 13'
  • STABAT für 32 Stimmen in 4 Chören (2017), 27'
  • AGNEL für 12-stimmigen Chor, Objekte, Knabenstimme und Elektronik (2013), 13'
  • ÄNGEN DANSAR für Frauenchor und Elektronik (2009), 10'

Weitere Vokalwerke

  • FIKONTRÄDET für Countertenor und Barockensemble (2016), 15'
  • HALBWERTZEITEN UND HONIG für Sopran, Klavier und Klavier-Lautsprecher (2010), 12'
  • WALLPAPERS für Bariton und Elektronik (2010), 5'30''
  • DER ZITRONENGELBE KLANG für Bariton, Sopran und Tuba (2008), 8'

Orchesterwerke

  • LASTER für motorisiertes Klavier und Orchester (2019), 20'
  • MANTEL für Streichorchester und 2 Schlagzeuger (2018), 18'
  • SEGEL für Orchester (2017), 13'
  • ARK für Blasorchester, 5 Schlagzeuger und Kontrabass (2016), 12'
  • AUGENLIDER für präparierte Gitarre und Orchester (2015), 20'
  • ALV für Orchester (2013), 8'

Ensemblewerke

  • FRANCESCA für Ensemble (2019), 25'
  • ZUCKER für motorisiertes Ensemble (2016), 15'
  • MARIA CALLAS für Ensemble (2014), 3'
  • MJÖLK für Ensemble und Riesenrad (2014), 20'
  • PAPIROSN für Ensemble (2013), 14'
  • ÄLV ALV ALVA für Ensemble (2012), 20'
  • PIETÀ für Ensemble und Bilder (2012), 9'
  • GRATA für Violoncello und Ensemble (2011), 15'
  • LAKALLES für Ensemble und Elektronik (2009), 9'

Kammermusik

  • LAUB für Violine, Gitarre und Chor (2018), 15'
  • FLEISCH Cello solo für 1–3 Cellisten (2017), 11'
  • PIETÀ für motorisiertes Violoncello und Ensemble (2015), 9'
  • SAI BALLARE? für Klaviertrio (2015), 8'
  • NEBENSONNEN für Violine, Viola, Violoncello und Klarinette in B (2015), 11'
  • VOGEL. MEHR VOGEL (ALS ENGEL), für Streichquartett (2015), 10'
  • (ENGEL, ... ) NOCH TASTEND, für Streichquartett (2015), 20'
  • «DER ZARTE FADEN DEN DIE SCHÖNHEIT SPINNT», installative Performance für Schlagzeugquartett (2014), 14'
  • RUE CUVIER ou LES YEUX AU CIEL für Violoncello und Akkordeon (2014), 15'
  • SERAPH für Violoncello und Orgel (2013), 15'
  • SAI BALLARE? für Violine, Klavier und motorisiertes Violoncello oder Klaviertrio (2013), 8'
  • ASCHE für Violoncello und Klarinette (2012), 15'
  • MADONNA DEL PRATO für Saxofonquartett (2012), 9'
  • PLAY TIME für Fahrrad und Schlagzeugtrio (2012), 10'
  • PIETÀ für Violoncello, Motoren und Elektronik (2012), 7'20''
  • ASKARGOT für Streichquartett (2011), 8'
  • ASKAR für Streichquartett und Elektronik (2010), 9'30''
  • JOIE für Lauscher und Lauscher (2011), 7'

Solostücke

  • PIETÀ für motorisiertes Violoncello und motorisierte Installation (2018), 8'
  • MINERVA für Barockcello (2018), 8'
  • SAFRAN für Violine und motorisiertes Klavier (2017), 14'
  • EXISTENSER für Klavier und Elektronik (2009), 10'
  • NÄCKEN für Violine und Elektronik (2008), 10'23''

Elektronik

  • PLAYNG BERLIN für Elektronik (2007), 2'30''
  • VON DEN SIEBEN PLAGEN für Elektronik (2008), 7'

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