Saed Haddad | Les Deux Visages de l'Orient

Saed Haddad

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von Silke Egeler-Wittmann

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Les Deux Visages de l'Orient (Satz I und III)

Werkeinführung zum 1. Satz von Doris Kösterke

"Les Deux Visages de l’Orient" (2006) ist ein fünfsätziges Werk für Solovioline, das durch das Wiederaufgreifen bestimmter Motive und Elemente in mehreren Sätzen zyklischen Charakter besitzt. Inhaltlich geht es dem Komponisten hierbei um das Phänomen verschiedener Sichtweisen auf die kulturellen Traditionen des Orients, um dessen im Sinne des Werktitels "zwei Gesichter" ("Deux Visages"). Hintergrund ist zum einen das in Edward Saids Buch Orientalism angeprangerte, dort als undifferenziert apostrophierte Orient-Bild des westlichen Abendlandes. Dabei werde der gesamte orientalische Kulturkreis auf wenige, als exotisch empfundene Elemente reduziert und solcherart vereinnahmt. Dem gegenüber stehe zum anderen jenes eigentliche Wesen des Orients, das sich durch vielfältige Daseinsformen auszeichne und sich Außenstehenden nicht unmittelbar erschließe. Diese inhaltliche Dualität manifestiert sich in den fünf Sätzen von Saed Haddads "Les Deux Visages de l’Orient" in nahezu jedem einzelnen Takt auf verschiedenen Ebenen, in der formalen Anlage des ersten Satzes auch in dessen Zweiteilung mittels Doppelstrich (T. 1 bis 27, T. 28 bis Ende).

Saed Haddad komponiert ausgehend vom Rhythmus. In einem Interview beschrieb er, wie er zunächst Instrumentation, Rhythmik und Dynamik entwirft und dann deren Energie mittels Tonhöhen verstärkt oder drosselt. Die rhythmische Struktur zu Beginn des ersten Satzes von "Les Deux Visages de l’Orient" basiert demnach auf der von Haddad geschätzten Fibonacci-Folge, einer unendlichen Zahlenreihe, bei der sich jede Zahl aus der Addition ihrer beiden Vorgänger ergibt. Diese Konstellation lässt sich etwa in den Notenwerten des ersten Motivs [vergleiche Notenbeispiel 1 "Zur Konstruktionsweise"] nachweisen. Hier wie auch im weiteren Verlauf des Satzes aber geht Haddad bei der Anwendung dieser Methode nicht schematisch vor. Das Prinzip des fortwährenden Wachstums allerdings findet sich in der Motivik der ersten 15 Takte durchaus konstant. So entwickeln sich die einzelnen Themenblöcke aus einer dreitaktigen Einheit, über eine fünftaktige Linie zu einem Komplex aus sieben Takten. Die gleiche Methode findet dann wiederum ab Takt 16 Anwendung, der auch einen Tempowechsel verzeichnet: Ein zwei- und ein dreitaktiges Motiv bilden zusammen mit der anschließenden über fünf Takte laufenden Linie eine groß angelegte dynamische Entwicklung, die sich vom Piano zum zweistimmigen Fortissimo steigert und bis zum Doppelstrich reicht. Diese Art der Motivbehandlung findet sich auch im zweiten Teil des Satzes, wenngleich weit weniger ausgeprägt. Steigerungsmomente werden hier weniger durch anwachsende rhythmisch-motivische Einheiten als vielmehr durch dynamische Vorzeichnungen und Mehrstimmigkeit hervorgerufen. Insgesamt hinterlässt die rhythmische Gestaltung einen sehr komplexen, andererseits aber auch sehr organischen Eindruck, und wirkt streckenweise wie improvisiert. Zusammen mit den regelmäßig gesetzten Pausen erinnert der gesamte Gestus an Formen orientalischer Gesänge, zumindest für europäische Ohren.

Zur Konstruktionsweise

Am Beispiel der ersten Takte des ersten Satzes von Les Deux Visages de l’Orient erläutert Saed Haddad, wie er rhythmische Konstellationen nach der Fibonacci-Reihe konstruiert. 

Was sich in den Verhältnissen der Notenwerte manifestiert, setzt sich auf der Ebene der taktweisen und motivischen Gliederung fort, wenn auch nicht streng schematisch. Arabische Rhythmen spielen dagegen keine Rolle. Haddads Musik mag arabisch klingen, komponiert wurde sie nach westlichen Methoden und gemäß einer synthetischen Ästhetik.

Dazu trägt auch die Melodik bei, die ebenfalls gleich an orientalische Musik denken lässt. Oder genauer: an arabische Musik, denn nur auf diesen Teil orientalischer Musik bezieht sich Haddad im Werktitel ("l’Orient"). Dieser Eindruck entsteht zum einen durch den Reichtum an musikalischen Ornamenten, zum anderen durch die charakteristischen Dreiviertelton-Intervalle. Sie sind typisch für arabische Musik und klingen für westliche Hörer ungewohnt und exotisch. Zur Konstruktion des Tonvorrats bedient sich der Komponist u.a. der arabischen maqāmāt [Vergleiche: Arbeitsblatt "Arabische Musik - Einführung"].

Die ersten zehn Takte dieses Satzes etwa beruhen auf dem maqām Husam, der auf dem um einen Dreiviertelton erniedrigten e, dem «e sikah», als Grundton beginnt [vergleiche Notenbeispiel 2 in "Zur Konstruktionsweise" und "Beispiele 1"], die anschließenden sechs Takte auf dem maqām Rast mit dem Grundton c [vergleiche Beispiel 2].

Zur Konstruktionsweise: Notenbeispiel 2

Beispiele

Ein Bruch ist infolge dieses Wechsels keineswegs erkennbar, er wirkt eher wie eine Weiterführung. In den Takten 16 bis 27 bezieht der Komponist sein Material zunächst aus dem maqām Hijaz [vergleiche Beispiel 3], einem der gebräuchlichsten maqāmāt der arabischen Musik, sowie aus dem maqām Hijaz Kar [vergleiche Beispiel 4], der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass hier keine dreivierteltönigen Intervalle vorkommen.

Nach der auch formal durch einen Doppelstrich gesetzten Zäsur in Takt 27, beginnt der zweite Abschnitt dieses Satzes "Intimo molto" im Pianissimo. Es folgt eine zweiteilige Melodie im maqām Saba auf g [vergleiche Beispiel 5], dessen dreitaktiges Frage-und-Antwort-Spiel jeweils mit der gleichen melodischen Formel schließt.

Die Weiterführung dieser Melodie ist im Unterschied zum ersten Teil nicht mehr eindeutig bestimmten maqāmāt zuzuordnen, sondern wechselt den Tonvorrat nahezu halbtaktweise. Manche Intervallkonstellationen könnten aus verschiedenen maqāmāt in verschiedensten Transpositionen entstammen. Wie im ersten Teil dieses Satzes intensiviert sich auch diese Weiterführung in konsequent gesteigerter Mehrstimmigkeit bis hin zu drei- und vierstimmigen Akkorden. Anders als zu Beginn des Satzes aber, wird das organische Weiterspinnen der lyrischen Melodik hier mehrfach beeinträchtigt, etwa durch geräuschhafte, «ruppige» mehrstimmige Akkorde. Der Satz schließt mit einem raschen Wechsel eines "molto sul tasto“ trillernden c/ces und einem "molto sul ponticelllo" und "as harsh as possible", mit aller Kraft und Schwere zu spielendem cis/d, einer Schlusswendung, die – mit Abweichungen – allen fünf Sätzen gemeinsam ist.

Festzuhalten bleibt, dass sich im ersten Teil dieses ersten Satzes von Les Deux Visages de l’Orient (T. 1 bis 27) der Tonvorrat nachweislich aus verschiedenen maqāmāt nährt, die jeweils gut als solche identifizierbar sind. Der zweite Teil (T. 28 bis Ende) zeigt zwar auch solche Anleihen, gestaltet sein Material jedoch in einer deutlich freieren Art und Weise, so dass er am Ende die arabischen Grundmuster und damit auch die entsprechenden Traditionen hinter sich zu lassen scheint. Auf die Frage, welches das "richtige" und welches das "falsche" Gesicht des Orients sei, entgegnet Haddad, dass man nicht in diese Richtung fragen solle. Vielmehr könnte man schlussfolgern, dass das Bild, das aufgrund des ersten Satz-Teils vom Wesen des Stückes entstanden ist, im zweiten Teil zwar unverkennbar wieder anklingt, wie in einer Variante des ersten aber schon nicht mehr stimmt und damit in Frage gestellt wird.

Dies weist hin auf eine mögliche Gesamtaussage des Stückes, in der Gedanken von Edward Said zusammenfließen mit denen Levinas’ und Derridas über die "Inpflichtnahme durch den ‚Anderen’":

Will man dem jeweils Anderen gerecht werden und ihn begreifen, muss man sich mit ihm vorbehaltlos und in allen seinen Facetten befassen. Das angebliche Wissen über den Anderen gerät auf den Prüfstand. In diesem Sinne muss auch bei Haddad nicht alles arabisch sein, was vordergründig arabisch klingt. Der konstruktivistische Fibonacci-Bauplan des Rhythmus etwa oder das geräuschhafte Akkordspiel der Geige im zweiten Satz-Teil verweisen eher auf Techniken neuer westlicher Kunstmusik (zu den Kennzeichen arabischer Musik vergl. das Arbeitsblatt Arabische Musik - Einführung). Und auch in der Nutzung der maqāmāt versucht Haddad eine«„balancierte existentielle Synthese zwischen den arabischen und westlichen Kulturen» zu erreichen und dabei Kategorien wie Exotismus und Postmodernismus zu überwinden.

Das Les Deux Visages de l’Orient zu Grunde liegende Prinzip der Dualität ließe sich damit im ersten Satz auf verschiedenen Ebenen der Komposition weiter verfolgen. Und im Rahmen dieser Vielschichtigkeit des Werkes findet sich offensichtlich auch Gegensätzliches vereint. Die Dualität, um die es Haddad in Les Deux Visages de l’Orient geht, erschöpft sich also nicht in plakativen musikalischen Kontrasten. Vielmehr findet man hier den musikalischen Ausdruck eines auf einer höheren, Haddad würde vielleicht sagen transzendenten Ebene angesiedelten grundlegenden Prinzips, zu dem Vielfalt und Gegensätze ebenso gehören, wie tiefgehende Beschäftigung und einfühlendes Verstehen zu dessen Erkenntnis erforderlich sind.

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