Unterrichtsverlauf

Zu Beginn werden die Schülerinnen und Schüler gebeten, darüber nachzudenken, was Kunst ist, wobei jede Schülerin und jeder Schüler auf der Basis individueller Reflexionen mindestens drei Aspekte notieren soll. Die Ergebnisse werden an der Tafel zusammengetragen. Im Falle des Grundkurses 11 Musik am Theodor-Heuss-Gymnasium in Sulzbach (Saar) ergab sich nebenstehendes Bild.

Nachgedacht werden kann darüber, ob es Aspekte gibt, die sich widersprechen, z. B. der Hinweis auf bestimmte Fähigkeiten, die in Kunstwerken zum Ausdruck kommen, und die Subjektivität des Erlebens von Kunst oder aber gesellschaftskritisches Potenzial versus Unterhaltungswert, der Kunst im Allgemeinen zugesprochen wird. Wichtig ist der Hinweis darauf, dass Kunst nicht abschließend definierbar ist.

Das entstandene Tafelbild sollte abfotografiert werden und kann ggf. in der Abschlussdiskussion, in der Bedeutungshorizonte des Stücks „dead wasps in the jam-jar (iii)“ von Clara Iannotta ergründet werden (vgl. Nr. 14), als Impuls verwendet werden.

Die Schülerinnen und Schüler bewegen sich frei im Raum. Nach einer Zeit sollen sie sich mit der Vorstellung fortbewegen, dass sie sich in einem sehr sumpfigen Gelände befinden. Diese Vorstellung wird etwa 30 Sekunden lang beibehalten, bevor der Wechsel zur Vorstellung eines sehr heißen Untergrundes erfolgt. Weitere Stationen sind:

  • wie auf Wolken gehen,
  • barfuß auf spitzen Steinen laufen,
  • in hüfthohem Wasser waten,
  • auf klebrigem Boden gehen,
  • über eine Fläche voller Kakerlaken gehen müssen.

Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Als Warm-Up für die Stimme bietet sich das Konzept „One word“ von Pauline Oliveros aus dem Jahr 1971 an. Es kann auf verschiedenste Weise modifiziert werden. Das Konzept lautet in deutscher Übersetzung:

„Wähle ein Wort. Verweile schweigend bei diesem Wort. Wenn du bereit bist, erforsche jeden Klang dieses Wortes in extrem langsamem Tempo, immer wieder neu. Nach und nach, unspürbar, verändere das Tempo, bis du normales Sprechen erreichst, und dann weiter, bis das Wort so rasch als überhaupt möglich erklingt. Wiederhole es immer weiter, bis ‚es stoppt‘.“

(zitiert nach: Hans Schneider: musizieraktionen. frei – streng – lose, Büdingen 2017. S. 159.)


In Hinblick auf den Titel des Bezugsstücks „dead wasps in the jam-jar (iii)“ und die in Nr. 5 angeregten musikalischen Gestaltungsarbeiten, bei der auch Stimmklänge verwendet werden können, kann das Konzept von Oliveros mit lauter Wörtern durchgeführt werden, in denen viele S-Laute vorkommen, z. B.:

Wassermassen            Wespennest               Kontrabassklasse

Flusskrebs                   Muskatnuss                Sprachassistent

Sparkasse                    Mezzosopran              Besserwisser

Stillkissen                    Pessimist                    Stresstest

Salatschüssel              Spaßgesellschaft


Auch geflüsterte Versionen sind denkbar. Ebenso lässt sich das entstehende Klangmaterial in Blöcken, die von Stillephasen unterbrochen werden, anordnen oder in anderer Weise kreativ weiterverarbeiten.

Die Schülerinnen und Schüler sollen nun in Gruppen von je drei oder vier Personen eines der folgenden Zitate aus dem CD-Booklet pantomimisch darstellen:

  1. „[sich] wie in Zeitlupe, auf dem Schlick entlang beweg[en]“
  2. „den enormen Druck der sich konstant bewegenden Wassermassen […] spüren“
  3. „konzentriertes Atmen in klaustrophobischer Enge“
  4. „die Augen [müssen sich] erst langsam an die Dunkelheit gewöhnen“

An den Pantomimen darf durchaus gearbeitet werden. Es ist darauf zu achten, dass sie mit Ruhe und sehr ausdrucksstark durchgeführt werden.

 

Der nächste Schritt der Unterrichtseinheit besteht darin, dass die Gruppen, die die Zitate aus dem CD-Booklet pantomimisch umgesetzt haben, passende Musiken zu ihren Bewegungen erfinden. Dabei kann mit der Vorstellung einer passenden „Filmmusik“ gearbeitet werden. Das Instrumentarium ist frei wählbar, auch Stimm- und Atemgeräusche bieten sich an.

Wenn die technischen Möglichkeiten vorhanden sind, können die Pantomimen gefilmt und mit der dazu erfundenen Musik unterlegt werden, wie in den Clips 4a, 4b und 4c.

Aus den entstandenen Einzelkompositionen kann eine größere Form entwickelt werden. Da zu erwarten ist, dass die Einzelkompositionen eher flächigen Charakter haben und weniger stringente Formverläufe ausprägen als Zustände von Klang repräsentieren, sind nicht nur Abfolgen von Einzelkompositionen, sondern auch Überlagerungen denkbar.

Vor dem ersten Hören erhalten die Schülerinnen und Schüler einige Basisinformationen über die Komponistin Clara Iannotta und ihre Arbeitsweise.

Das erste Hören des Stücks „dead wasps in the jam-jar (iii)“ von Clara Iannotta erfolgt ohne konkreten Auftrag. Wer möchte, darf seine Assoziationen notieren. Wichtig ist, dass das ganze Stück gehört wird. Es hat sich als hilfreich erwiesen, die Dauer des Stücks von etwa 12 Minuten vorher transparent zu machen. Die Schülerinnen und Schüler werden gebeten, eine bequeme Haltung einzunehmen.

Im Anschluss an den ersten Hördurchgang dürfen Eindrücke, Assoziationen und Erlebnisse artikuliert werden.

Als nächstes wird den Schülerinnen und Schülern das Arbeitsblatt 9a ausgehändigt, auf dem sich vier Partiturausschnitte aus dem Stück „dead wasps in the jam-jar (iii)“ von Clara Iannotta befinden, zu denen die Hörbeispiele A-D passen. Die Hörbeispiele werden abgespielt und sollen den Partiturausschnitten jeweils mit Begründung zugeordnet werden. Dies geschieht, bevor eine Einführung in die Partitur und ein Studium der Legende stattgefunden hat.

Im Idealfall werden die beiden Seiten des Arbeitsblattes nebeneinander gelegt oder auf DIN-A3 kopiert, damit alle Partiturausschnitte zugleich überblickt werden können.

Die Lösung lautet:

                                               HB 1 = Partiturausschnitt D

                                               HB 2 = Partiturausschnitt C

                                               HB 3 = Partiturausschnitt B

                                               HB 4 = Partiturausschnitt A

    

Auf welche Weise sich die Schülerinnen und Schüler die Spieltechniken auf den Streichinstrumenten erschließen, hängt stark von den jeweiligen Voraussetzungen ab, z. B. von der Frage, ob es Schülerinnen oder Schüler gibt, die Streichinstrumente spielen, von der Frage, ob die Lehrkraft ein Streichinstrument spielt und davon, welche Instrumente der Schulfundus zur Verfügung stellt. Die Spiral-Büroklammern sind im Online-Handel erhältlich (bitte die kleinen nehmen), auch Gummi-, Holz- und Metalldämpfer sind erschwinglich.

Im Grundkurs 11 am Theodor-Heuss-Gymnasium in Sulzbach haben wir uns dafür entschieden, die Schülerinnen und Schüler danach zu fragen, wie die speziellen Klänge in Iannottas Stück wohl erzeugt werden könnten, die Vorschläge dann aber selbst umzusetzen und vorzumachen. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass Hemmungen, den extremen Bogendruck anzuwenden, die bei Schülerinnen und Schülern häufig bestehen, umgangen werden können.

Abschließend kann die Legende der Partitur gezeigt werden.

Beim zweiten Hördurchgang wird ebenfalls das ganze Stück angehört. Dieses Mal bekommen die Schülerinnen und Schüler jeweils ein grünes, ein gelbes und ein blaues Kärtchen und werden gebeten, ein paar Notizen zu machen: Auf dem grünen Kärtchen sollen bis zu drei Adjektive notiert werden, die zu der gehörten Musik passen. Auf dem gelben Kärtchen sollen bis zu drei Substantive festgehalten werden und auf dem blauen Kärtchen bis zu drei Verben im Infinitiv.

Nach dem zweiten Hördurchgang werden die farbigen Kärtchen, auf denen die Begriffe notiert wurden, in der Mitte des Unterrichtsraums ausgelegt und besichtigt. Auffälligkeiten, z. B. Doppelungen, Verwandtschaften oder auch Gegensätze, werden reflektiert.

Jede Schülerin und jeder Schüler nimmt sich ein Kärtchen jeder Farbe, das nicht das von ihr oder ihm selbst beschriftete ist, und nimmt in einem Stuhlkreis Platz. Nun werden die notierten Begriffe deutlich und sauber artikuliert vorgelesen. Dies kann in verschiedener Weise erfolgen:

  • reihum hintereinander
  • frei einsetzend in beliebiger Reihenfolge
  • in Form kurzer Kaskaden, indem auf längere Schweigephasen Passagen folgen, in den sich mehrere Sprechende ins Wort fallen

Alle drei Versionen können wiederum in verschiedenen Ausdrucksvarianten dargeboten werden, z. B. überdeutlich geflüstert, angstverzerrt, monoton, ersterbend usw.

Im Anschluss an die musikalische Sprechperformance erfolgt die Diskussion über mögliche Bedeutungshorizonte des Stücks „dead wasps in the jam-jar (iii)“. In dieser Diskussion sollte sich die Lehrkraft möglichst zurückhalten. Falls die Diskussion nicht von selbst an Fahrt aufnimmt, ist es hilfreich, die Schülerinnen und Schüler ihre Hörerfahrungen an den selbst aufgestellten Kriterien für Kunst messen zu lassen und das unter Nr. 1 entstandene Tafelbild noch einmal einzublenden. Auch können einige Zitate von Clara Iannotta über ihre Musik als Gesprächsimpulse genutzt werden, die allesamt im CD-Booklet zu finden sind, z. B.:

„… ich habe gelernt, nie nur das Objekt zu sehen, sondern immer auch dessen Potenzial.“

„Ich fange an, in meiner Musik Hüllen abzulegen. Ich will nichts mehr verstecken oder verschnörkeln. Ich insistiere auf die Energie selbst und nicht auf das, was sie reflektiert.“

„Meine Musik kann nur entstehen, wenn die Musiker einander sehr genau zuhören.“

„… ich bin ein Kontrollfreak. In diesem Fall aber wurde ich dafür belohnt, die Kontrolle abzugeben: Mir offenbarte sich ein völlig neuer Klangraum, den ich mir zuvor nicht einmal hätte vorstellen können.“

Naheliegende Gedanken, wie die Deutung der toten Wespen im Marmeladenglas, die in einem an Ressourcen begrenzten Raum an ihrer eigenen Gier zugrunde gegangen sind, als Metapher für die Zukunft der Menschheit, sind für Schülerinnen und Schüler nicht unbedingt so augenfällig wie für erwachsene Menschen. Nichtsdestoweniger kommen auch Jugendliche auf Ideen, die keineswegs weniger überzeugend sind als die angedeutete Zivilisationskritik. Am Theodor-Heuss-Gymnasium wurden die Wespen im Marmeladenglas mit dem Eingesperrt-Sein während der Corona-Pandemie assoziiert.

Kein Interpretationsansatz ist beweisbar. Clara Iannotta hat ein offenes Kunstwerk im besten Sinne geschaffen.

Selbstverständliche sind zahllose alternative Vorgehensweisen denkbar. Mit Lerngruppen, die über viel Erfahrung mit Improvisation und Komposition verfügen, ist es möglich, direkt mit musikalischen Gestaltungsaufgaben zu beginnen, die sich an Textausschnitten aus dem CD-Booklet orientieren. Folgende Stellen bieten sich an:


1. Aus dem Nichts entstehen zarte, zerbrechliche Töne, die lange anhalten. Sie schärfen das Gehör, so wie sich die Augen erst langsam an die Dunkelheit gewöhnen müssen.

2. In dem Stück verschmelzen schroffe, knurrende und kratzende Geräusche mit eingespielten Sinustönen, dazwischen öffnen sich immer wieder Lichtungen von hellen und fein nuancierten Tonfäden, die sich ins Unendliche ziehen.


Gruppenkompositionen, die ohne Kenntnis des Stücks „dead wasps in the jam-jar (iii)“ von Clara Iannotta während der Fortbildungsveranstaltung „Abenteuer Neue Musik“ in Trossingen auf der Basis dieser Zitate entstanden sind, können auf den Videoclips (Hauptseite) angesehen und angehört werden.

Eine weitere Idee, die noch der Umsetzung harrt, sind Improvisationen oder Kompositionen, die von Abbildungen von Tiefseekreaturen inspiriert werden. Abbildungen solcher Monsterfische finden sich im Netz zuhauf.

Diskutiert wurde in der Arbeitsgruppe, die das vorliegende Unterrichtsmodell erarbeitet hat, auch die Frage, wann der richtige Moment sei, den Titel des Stücks „dead wasps in the jam-jar (iii)“ zu verraten. Reizvoll könnte sein, den Titel noch bis zum abschließenden Interpretationsgespräch zu verbergen und das Gespräch mit Spekulationen über den Titel zu eröffnen.

 

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