Geboren wurde Wolfgang Rihm am 13. März 1952 in Karlsruhe, bis heute hat er dort seinen Wohnsitz. Erste Kompositionsversuche unternahm er 1963. Bereits als Schüler des Karlsruher Bismarck-Gymnasiums, an dessen Aula, die dortigen Musikaufführungen und den Flügel er sich bis heute lebhaft erinnert, genoss er eine Sonderstellung als Künstler.
1968, noch während der Schulzeit, nahm er ein Kompositionsstudium bei Eugen Werner Velte an der Staatlichen Hochschule für Musik in Karlsruhe auf, das er 1972, zeitgleich mit dem Abitur, abschloss.
1970 besuchte Rihm erstmals die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Weitere Kompositionsstudien erfolgten zunächst bei Wolfgang Fortner und Humphrey Searle, 1972/73 dann bei Karlheinz Stockhausen in Köln, 1973 bis 1976 schließlich bei Klaus Huber in Freiburg/Breisgau, wo er auch die musikwissenschaftlichen Seminare von Hans Heinrich Eggebrecht besuchte. Seine eigene Lehrtätigkeit begann 1973 in Karlsruhe, seit 1978 war Rihm Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen, seit 1985 ist er – als Nachfolger seines eigenen Lehrers Velte – Professor für Komposition an der Karlsruher Musikhochschule.
Zu seinen bekanntesten Schülern zählen Jörg Widmann, Rebecca Saunders, Vykintas Baltakas und Márton Illés. Schon mit seinen ersten größeren szenischen Werken, den Kammeropern „Faust und Yorick“ (1976) und „Jakob Lenz“ (1977/78), unterstrich Wolfgang Rihm mit Nachdruck seine Ausdruckskraft und seine Konzentration auf subjektive kompositorische Entscheidungsprozesse – statt auf vorgeprägte Materialkonfigurationen nach dem Vorbild der seriellen Musik. Bis heute wuchs sein Schaffen auf über 400 Einzelwerke an, die ein Klanguniversum ganz eigener Art konstituieren, wobei er nahezu alle Gattungen berücksichtigt(e).
Die ersten wichtigen Preise, die er erhielt, waren 1978 der Berliner Kunstpreis, der Kranichsteiner Musikpreis Darmstadt und der Reinhold Schneider-Preis der Stadt Freiburg. Zahlreiche weitere Auszeichnungen, Stipendien und Kompositionsaufträge folgten, gekrönt von der Verleihung des als „Nobelpreis der Musik“ apostrophierten Ernst von Siemens Musikpreises im Jahre 2003. Neben seiner kompositorischen Arbeit und seiner Lehrtätigkeit ist Rihm auch in etlichen Gremien aktiv: von verschiedenen Jurys bis zur GEMA und dem Vorsitz im Beirat der Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats. In seinen Schriften – nicht nur über eigene Werke – tritt er auch als scharfsinniger Musiktheoretiker hervor. 2012, im Jahr seines 60. Geburtstags, wird Wolfgang Rihm weltweit mit Aufführungen seiner Werke gefeiert.
Wie die Ziffer im Titel andeutet, ist «Chiffre III» Teil eines Zyklus, der Wolfgang Rihm zunächst sieben Jahre beschäftigte: von «Chiffre I» von 1982 bis zu «Chiffre VIII» von 1988.
2004 kam er erneut auf den Zyklus zurück und führte ihn mit «Nach-Schrift (eine Chiffre» zu seinem eigentlichen Abschluss. War dem Komponisten (*1952) bei «Chiffre I» – die Ziffer wurde nachträglich verliehen – das zyklische Potenzial noch nicht klar, so rückte diese Vorstellung bei der Komposition «Silence to be beaten» (1983) aufgrund von starken, aber, wie Rihm anmerkte, gleichwohl nicht bewusst eingerichteten Anklängen an «Chiffre I» in den Fokus. Ein hoher Verwandtschaftsgrad besteht sowohl in dem aus einem ostinaten Thema hervorgegangenen Material als auch im Ausdruckscharakter. Daher erhielt «Silence to be beaten» später den Untertitel «Chiffre II», und noch im gleichen Jahr schrieb Rihm «Chiffre III» für 12 Spieler.
«Die Stücke mit dem Titel Chiffre», so Rihm, «sind Versuche, eine Musiksprache zu finden, die frei ist von Verlaufs- und Verarbeitungsvorgaben. Es geht um freie Setzung des Einzelereignisses, unherbeigeführt, folgenlos im engen Sinn – freie Fortzeugung eines Imaginationsraumes; Suche nach Klangobjekten, nach Klangzeichen, einer Klangschrift. Ein Stadium in meiner immer wieder unterbrochenen, immer wieder aufgenommenen Suche nach Musik als Zustand. Musik als Zustand von Musik.»
«Musik als Zustand von Musik» schließt aber nicht aus, dass auch außermusikalische Einflüsse direkt oder indirekt eine Rolle spielen. Wenn Rihm im Kommentar zu seiner 1977 bis 1978 komponierten Kammeroper «Jakob Lenz» von «Chiffren der Verstörung» spricht, dann deutet das bereits darauf hin, dass in seinem Verständnis von musikalischen «Chiffren» oder «Zeichen» seelisch-emotionale Sphären unmittelbar mitschwingen.
Für den «Chiffre»-Zyklus benennt er mit Franz Kafkas Erzählung «In der Strafkolonie» (1914) denn auch eine konkrete literarische Inspirationsquelle. Diese surreale und zutiefst bedrückende Geschichte über die Erläuterung und Vorbereitung einer Exekution mittels einer eigens dafür konstruierten Maschine, die dem Delinquenten das Urteil immer tiefer in die Haut einritzt, wird aber keinesfalls im Sinne von Programmmusik vertont. Wohl aber spiegelt sich auf abstrakter Ebene das Insistierende des Einritzens in den sich tief ins Bewusstsein einbrennenden (ostinaten) Klangzeichen des «Chiffre»-Zyklus wider. Für ihre existenzielle Kargheit, die wie aus Klangblöcken herausgemeißelt erscheint, standen zudem die dürren und lang gestreckten Skulpturen des Schweizer Künstlers Alberto Giacometti Pate.
«Chiffre III» begreift Rihm als «kompakte Szene, absurde Ausblicke, eine Art Bündelung, viel Körper, das Schrifthafte tritt zurück, das Plastische hervor (das Ganze als muskuläres Objekt), Einsprache der tiefen Holzblasinstrumente (Lagen! Kreaturklang und Beschwörung), Tanz der Klangkörperteile. Pfiffe?»
Unterstrichen wird besagte Kompaktheit und Abgeschlossenheit dieser Szene durch ekstatische Schlagzeugakzente zu Beginn, die wie Menetekel eine bizarre Welt der Klangzeichen eröffnen. Diese verdichten sich rasch, einzelne Töne werden eindringlich wiederholt, was ans Bohrende und Obsessive gemahnt. Immer wieder verschiebt sich durch Perspektivwechsel (Nahsicht / Fernsicht etc.) der Blick auf die Zeichen, die nicht zuletzt durch eingestreute Pfiffe etwas Wesenhaftes erlangen. Im Wandel zu tänzerischem Duktus erwachen sie zum Leben, in musiktheatralischer Assoziation formieren sie sich zu imaginären Objekten oder Figuren, bis die Andeutung einer großen romantischen Geste am Ende den Vorhang schließt – nicht ohne einem kleinen Klangzeichen, womöglich auch als gedachte Überleitung zum nächsten Stück des Zyklus, das letzte Wort zu überlassen. Es spricht für Rihms intuitives Formgefühl, dass sich markante (formale) Entwicklungslinien entfalten, auch wenn, wie der Komponist betonte, die Musik im «Chiffre»-Zyklus «völlig frei aus der Phantasie-Spannung» entstand und die «Klangschrift sich selbst im Augenblick ihrer Aufzeichnung schreibt».
«Ich habe eine Wunschvorstellung von Klang, der ganz seltsam zwischen Härte und Überschwang, dröhnender Kargheit und stählerner Üppigkeit, zwischen Schroffheit und glühender Sinnlichkeit angesiedelt ist. Es sind immer diese beiden Pole, die mich magisch anziehen, und ich suche das eine im anderen. So finde ich im perkussiven Akzent, im Schlag, enorme Sinnlichkeit wieder. Im melodiösen Verströmen suche ich die Härte, die scharfe Klinge, aber die biegsame» (Wolfgang Rihm).
Hinter dem Spannungsfeld aus sensiblem Ertasten einerseits und harscher Ausdrucksintensität mit starker physischer Präsenz und ans Mythische gemahnender Klanglichkeit andererseits steht die Tendenz zur Verdichtung existenzieller Zustände und Grenzerfahrungen – eine Dimension, die in Wolfgang Rihms gesamtem Schaffen begegnet. Ungewöhnlich ist allein schon seine extrem hohe Produktivität, die er damit begründet, dass er weder als Intendant noch als Interpret in Erscheinung tritt, sondern sich, neben seinen Funktionen im Musikleben und seiner Professur für Komposition in Karlsruhe, auf das Schöpferische konzentriert.
Von Beginn an strebte Rihm, nach einer Phase der Suche und Selbstfindung, konsequent nach Selbstausdruck. Kompositionstechnisch dominierte bis in die 1990er-Jahre hinein die Fokussierung aufs Punktuelle, wie sie sich auch in dem im Wesentlichen zwischen 1982 und 1988 entstandenen «Chiffre»-Zyklus widerspiegelt. In der Setzung isolierter Klangereignisse, die sich aus eigener Kraft artikulieren, manifestierte sich für Rihm nicht zuletzt eine Freiheit in der künstlerischen Arbeit, die auch Kritik an der so genannten Avantgarde und deren Materialhörigkeit implizierte. So gehörte er Mitte der 1970er-Jahre zu einer Reihe von Tonkünstlern, die vehement ihr Unbehagen am «Materialfetischismus» der Avantgarde formulierten und stattdessen um unmittelbaren Ausdruck rangen. Provoziert hat allein schon, dass Rihm nicht davor zurückscheute, Symphonien zu komponieren und diese auch so zu nennen, wenngleich sich seine Symphonien von klassisch-romantischen Vorbildern deutlich unterscheiden.
Reaktionen darauf ließen nicht lange auf sich warten: Rihm und seine Komponistenkollegen Manfred Trojahn, Hans-Jürgen von Bose und Detlev Müller-Siemens, die sich freilich niemals programmatisch als Gruppe verstanden haben, wurden mit dem Etikett «Junge Wilde» versehen und unter den Schlagwörtern «Neue Einfachheit» und «Neue Subjektivität» zusammengefasst. Angefochten hat das Rihm und seine weitere Entwicklung indes nicht.
Expressivität und bohrende Intensität korrespondieren in seiner Musik mit einem spezifischen Formbegriff. Form fasst er nicht als vorgeprägtes Gefäß auf, in das der Klang hineingegossen wird. Sein Formempfinden ist vielmehr ein intuitives, nach dem jeder in Musik erfundene Gedanke sich seine Form selbst schafft. In jüngerer Zeit, vor allem seit dem Werkkomplex «Jagden und Formen», mit dem er sich in verschiedenen Stadien und Zuständen von 1995 bis 2008 beschäftigte, rückte er den melodischen Verlauf verstärkt in den Vordergrund. Statt punktuelle Klangereignisse zu konstituieren, orientierte er sich nun mehr an der Horizontalen, an der Strecke und mithin am Strömen- und Fließenlassen. Dieser Ansatz stellt zwar im Hinblick auf Ausdruck und Faktur einen tief greifenden Wandel dar, am Grundzug seiner Arbeitsweise hat sich jedoch nichts verändert. Nach wie vor verlässt sich Rihm gerade nicht auf Eigengesetzlichkeiten oder Vorprägungen des Materials, sondern auf rein subjektives Empfinden und künstlerische Entscheidungsfreiheit. Er betont das vom Moment abhängige Agieren – und versteht seine Werke als Organismen, die sich durch Vermittlung des komponierenden Subjekts aus sich selbst heraus entfalten sollen: «Vielleicht», so Rihm, «in einer Mischform zwischen Pflanze und Gärtner. Ich bin gleichzeitig die Pflanze und der Gärtner. Also vegetativ einerseits, andererseits auch ordnend, konzentrierend, den Wuchsformen helfend.» In diesem sich immer wieder aus sich selbst heraus erneuernden Konzept gerät zumal die Betrachtung ausgedehnter Schaffensphasen zur spannenden Entdeckungsreise.
Eingeschrieben ist Rihm aber auch das Denken in Polaritäten, das sich unmittelbar auf formale Belange auswirkt. Während sich viele seiner musikalischen «Wuchsformen» weit ausdehnen, konstruiert er im Gegenzug immer wieder auch extrem kurze Stücke: etwa in der Werkreihe «Fetzen» und in «Satelliten», die als verdichtete Energiebündel ihre Eigenständigkeit behaupten und doch über sich hinausweisen. So wird in «Zwischen den Zeilen» für Streichquartett (1991) bereits im Titel angesprochen, das der eigentliche musikalische Sinn hinter den Tönen verborgen liegt. Thematisiert ist die Sinnsuche selbst, die in aphoristischer Zuspitzung licht- und fluchtpunktartig unbekannte geistige Räume öffnet und zugleich doppelbödig über die Tradition des Streichquartetts und dessen unerschütterliches Potenzial reflektiert: «Streichquartett ist für mich», so Rihm, «ein magisches Wort, der Geheimnischarakter von Kunst schwingt darin…» – und diesem «Geheimnischarakter» spürte er in mittlerweile 13 durchnummerierten Streichquartetten und weiteren Quartettkompositionen nach.
Aber Wolfgang Rihm ist auch ein bedeutender Opern- und Liedkomponist. Immer wieder widmet er sich traditionellen Gattungen bis hin zum Oratorium («Deus Passus», 2000). Wichtiger wird zudem die Zusammenarbeit mit herausragenden Interpreten wie den Geigerinnen Anne-Sophie Mutter («Lichtes Spiel», 2009) und Caroline Widmann («Coll’Arco», 2008) sowie dem Klarinettisten Jörg Widmann («Über die Linie» II, 1999), der ein Kompositionsschüler von ihm war.
Weit greift Rihms Wissen über die Musik hinaus. Intensiv setzt er sich mit Bildender Kunst, Literatur und Philosophie auseinander, die für ihn zentrale Inspirationsquellen darstellen. Markant sind auch die teils engen Beziehungen der Stücke untereinander, die über zyklische Anordnungen hinausgehen. Seine «Wuchsformen» reagieren aufeinander, befragen sich, ganze Werkfamilien bilden sich heraus, Material wird übermalt und erscheint in veränderter Form in neuen Zusammenhängen.
So vielschichtig und vergeistigt Rihms künstlerischer Kosmos mitunter anmuten mag, so ist er doch auch den haptischen Dimensionen des Klangs und der Sinnlichkeit des Daseins sehr zugetan. Jenseits von Programmmusik transformiert er sowohl komplexe Texte von Friedrich Nietzsche als auch vermeintlich schlichte Phänomene wie Bewegung und Stillstand in Musik; zumal Letztere machen, wie Wolfgang Rihm betont, den Kern der menschlichen Existenz aus: «Das Gehen und das Innehalten sind die natürlichsten Grundgestalten musikalischen Fortschreitens. Durch sie hindurch geht allerdings der Fluss, dem alles angehört, was sich in der Zeit erstreckt. Wir bleiben stehen – hören zu – gehen weiter. Das Leben.»
Das Schaffen von Wolfgang Rihm (*1952) umfasst nahezu alle Gattungen und ist mittlerweile auf über 400 Einzelstücke angewachsen. Hier eine Auswahl der wichtigsten Werke in chronologischer Reihenfolge: