Geboren am 12. Dezember 1975 in Budapest, erhielt Márton Illés zunächst eine musikalische Grundausbildung in den Fächern Klavier, Komposition und Schlagzeug in dem ungarischen Städtchen Györ. 1993, noch vor seinem Studium, wurde ihm der erste Preis beim Klavierwettbewerb «Rencontres Musicales de la Venoge» in Lausanne verliehen. Ab 1994 studierte er an der Musik-Akademie in Basel Klavier (bei László Gyimesi, Solistendiplom 1998) und Komposition bei Detlev Müller-Siemens (bis 2001). Von 2001 bis 2005 setzte er seine Studien in Karlsruhe bei Michael Reudenbach (Musiktheorie), Thomas A. Troge (elektroakustische Komposition) und Wolfgang Rihm (Komposition) fort. Gerade Rihm war es, der Illés motivierte, sich stets selbst zu hinterfragen und im Dickicht zeitgenössischen Komponierens konsequent eigenen Wegen nachzuspüren. Meisterkurse, etwa bei Karl-Heinz Kämmerling, György Kurtág und György Ligeti, ergänzten seine Ausbildung. 2004 nahm er am ersten Internationalen Kompositionsseminar des Ensemble Modern in Frankfurt/Main 2004. Seit 2005 lehrt Illés selbst als Dozent für Musiktheorie an der Karlsruher Musikhochschule.
Zu seinen wichtigsten Preisen und Auszeichnungen gehören der Christoph und Stephan Kaske Preis (2005), der Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung sowie der Schneider-Schott-Preis und der Paul-Hindemith-Preis (alle 2008). Kompositionsaufträge bekam er etwa vom Klangspuren-Festival Schwaz, den Kasseler Musiktagen, dem Thüringer Landestheater Rudolstadt, dem WDR (Wittener Tage für neue Kammermusik), der Münchener Biennale, den Haydn Festspielen Eisenstadt und für das «Into»-Projekt von Ensemble Modern und Siemens Arts Program.
2007 gründete Márton Illés in Karlsruhe das Ensemble «Scene polidimensionali», das seine Werke unter seiner Mitwirkung als Pianist und Dirigent in dramaturgisch streng durchgestalteten quasi-szenischen Konzerten aufführt. 2009 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom; seit diesem Jahr erscheinen seine Werke im Verlag Breitkopf & Härtel. 2010 wurde sein Musiktheaterwerk Scene polidimensionali XVII «Die weiße Fürstin» (nach Rilke) im Rahmen der Münchener Biennale uraufgeführt. 2011 erhielt er ein Stipendium der Villa Concordia Bamberg, und die Musikhochschule Würzburg erteilte ihm einen Lehrauftrag. Eine Portrait-CD von Márton Illés in der Reihe «Edition Zeitgenössische Musik» des Deutschen Musikrats ist im Juni 2012 erschienen.
Wie Wolfgang Rihms «Chiffre III» ist auch Márton Illés’ Scene polidimensionali XV «Mániákus Vonalak» (manische Linien) Teil einer (umfangreichen) Werkreihe. Gemeinsam ist diesen «Szenen», die keinen Zyklus im engeren Sinne bilden, dass sie auf vielstimmigen Melodiegeflechten basieren. Mehrere Linien überlagern sich, folgen ihren eigenen Gesetzen, verdichten sich aber auf höherer Ebene zu einem komplexen Liniennetz. Hoher Abstraktionsgrad und unterschwellige «szenische» Allusionen durchdringen sich, gepaart mit einer Expressionskraft, die bis ins Exzessiv-Überspannte anschwillt. Dieses Moment ist ein prägendes Merkmal in der Musik von Márton llés (*1975), das er in Scene polidimensionali XV «Mániákus Vonalak» (manische Linien) von 2008 auf den Punkt brachte. Der im Beinamen angesprochene Aspekt des Manischen hat für den ungarischen Komponisten mit seelischen Regungen, aber auch unmittelbar mit körperlichem Ausdruck zu tun. Nicht die krankhafte psychische Veränderung ist gemeint, sondern vielmehr ein Zustand, der mit dem (Alltags-) Leben selbst korrespondiert: mit Irrungen und Wirrungen, Ängsten und Hoffnungen, dem «Wühlen» im Gedächtnis und Projektionen auf die Zukunft. Illés bohrte und «wühlte» in «Mániákus Vonalak» förmlich im Klang – worin eine Verbindung zu Wolfgang Rihms Ansatz im «Chiffren»-Zyklus besteht.
Wie aus einem Urgrund oder einer tiefen Quelle erheben sich die Stimmen und sprudeln zunächst geysirartig hervor. Rasch schleichen sich Störungen ein, als würde sich der Klangstrom stauen, ins Stocken geraten, als würde er verlegt werden, als müsste er Hindernisse überwinden und sich neue Wege suchen. Mit sechs Klarinetten und Klavier ist allein schon die Besetzung sehr ungewöhnlich – wobei im Chor der Bläser das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen einzelner und gemeinsamer Aussage zum Tragen kommt: In einem akribisch austarierten polyphonen Gewebe hängen die sechs Klarinetten jeweils ihren eigenen Gedanken nach und vereinigen sich doch zu einem schwirrenden Klangkosmos; sie schweben zwischen Unisono und Heterophonie, zwischen vollkommener Verschmelzung und aufreibender Bündelung.
Nach diesem Anfangsteil ziehen sich die Klarinetten in sich selbst zurück, und parallel dazu löst sich das Klavier rasch von Begleitimpulsen und konterkariert die Bläser mit aufblitzenden Einwürfen. Es entwickelt Eigenleben, wird zur treibenden Kraft und öffnet in völliger Unabhängigkeit lichtreflexartig Fenster zu anderen Räumen. Gerade in diesen Klangzeichen sind, bei aller Eigenständigkeit von Illés, Beziehungen zu Rihms Auffassung von Chiffren und Zeichen als musikalischem Material zu erahnen. Zugleich wird im Part des Klaviers auch das Manische deutlich, denn es verbeißt sich regelrecht, stottert und hadert, während die Klarinetten ihm in chorischer Eintracht gegenübertreten. In latenter Anlehnung an eine A-B-A-Form reißen die Bläser schließlich das Heft wieder an sich, und das Klavier kehrt zur Wahrnehmung konturierender Funktionen zurück. In dieser Verlagerung der klanglichen und ausdrucksspezifischen Balance verbirgt sich auch eine theatralische Dimension, die einerseits konfrontative Belange enthält, andererseits aber ebenso auf dem – gegenseitiges Einverständnis voraussetzenden – Vor- und Zurücktreten einzelner Elemente in einem vielschichtigen Stimmengeflecht beruht. Diese Doppelbödigkeit, die menschlichen Verhaltensweisen nachempfunden ist, wird im Klangbild extrem ausgereizt. Phasen «manischer» Verdichtung und opulenter Klangentfaltung wechseln mit Sequenzen der Ausdünnung und skelettartiger Reduktion, gleißende Fontänen alternieren mit scheuen Lichtpunkten. Hervor stechen in Scene polidimensionali XV «Mániákus vonalak» orgasmische Steigerungskurven in der Erzeugung von Intensität und das Manisch-Insistierende auf dem Feld des Motivisch-Gestischen, das sich im Beharren und Weiterkneten des musikalischen Materials niederschlägt – und noch im Versinken der «manischen Linien» suggeriert ihr Murmeln und Wühlen im Urgrund eine nie versiegende Quelle.
«Wenn ich die Struktur, die Syntax meiner Musik betrachte, dann stelle ich fest, dass ihre Grundgestik sehr ungarisch ist, obwohl ich eigentlich ein ’deutsches Produkt’ bin», bemerkte Márton Illés, der vor allem von Detlev Müller-Siemens und Wolfgang Rihm beeinflusst wurde. In seiner Auffassung vom Klang als plastischem Material, in das er wühlend und bohrend eindringt, sind denn auch gerade zu Rihm unterschwellige Beziehungen auszumachen. Das unmittelbare körperliche Miterleben von Klängen und deren Energiepotenzialen betrachtet Illés als zentrale künstlerische Anregung – und das kommt nicht zuletzt in seiner Doppelidentität als Komponist und Pianist zum Ausdruck. Im Jahre 2000, 25-jährig, entschied er sich jedoch, nur noch eigene Werke zu interpretieren und das Schöpferische in den Vordergrund zu stellen.
Eng verknüpft mit dem Körperlichen und dessen Energiepotenzial ist sein Formgefühl, denn Illés sieht musikalische Formen nicht als feste Muster, sondern als prozessual sich verändernde «energetische Gerüste» an. Wie Rihm schöpft auch er immer wieder aus außermusikalischen Quellen, die aber hinter den Klängen kaum zum Vorschein kommen. Auf Gratwanderung zwischen konkreten Anknüpfungspunkten und radikaler Abstraktion begibt er sich in seinem Zyklus «polydimensionaler Szenen», worin sich bis in Mikrostrukturen hinein polyphone Geflechte entfalten. Während etwa der Untertitel «Vonalmezök» (Linienfelder) der von 2004 stammenden Scene polidimensionali VIII für Streichquartett ans Konstruktive gemahnt, verweisen weitere dieser «Szenen» sachte auf andere Bedeutungsfelder: «zerstückelte Linien», «gestische Linien» oder eben «manische Linien». In der Fantasie des Komponisten symbolisieren die Klanglinien Individuen, die sich in imaginären szenischen Räumen im Mit-, Neben- und Gegeneinander zu definieren haben. So bildet sich ein extrem linearer kontrapunktischer Satz heraus, dessen Stimmen wie Nervenbahnen subtilste Reize empfangen und aussenden und sich immer wieder zu Kulminationspunkten verdichten. Den (vorläufigen) Abschluss der Werkreihe markierte dann ein im wörtlichen Sinne szenisches Werk: die Oper Scene polidimensionali XVII «Die weiße Fürstin», uraufgeführt im April 2010 bei der Münchner Biennale für neues Musiktheater.
Ihren Gegenpol findet besagte Polydimensionalität im Eindimensionalen; der Mehrschichtigkeit gegenüber steht die Einschichtigkeit im Sinne eines Unisonos oder einer einzelnen Stimme, die, wie Illés es ausdrückt, «splitternackt dargestellt wird und von der aus ich dann wieder in die Komplexität übergehe». Zwar ist sein kompositorischer Ansatz sehr eigensinnig, neben den subtilen Verbindungen zu seinen Lehrern sind aber musikgeschichtliche Phänomene unabweisbar, zumal die Entwicklung und Ausweitung polyphoner Strukturen ein maßgebliches Merkmal der abendländischen Musik überhaupt ist. Illés bezieht sich besonders auf die amerikanischen Komponisten Charles Ives und Elliott Carter, ohne dass er sie imitieren würde. Ives hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gegensätzliche musikalische Welten aufeinander prallen lassen, und der über 100-jährige Zeitgenosse Carter vereint in der polyrhythmischen Anlage seiner Werke heterogene Zeitmaße und Charaktere, worin er eine Entsprechung zum Leben selbst sieht.
Auch Illés begreift seine Musik als Antwort auf das Leben – in Reaktion auf die Überfülle an Reizen und Bedrängnissen der Außenwelt zieht er sich künstlerisch auf seine eigene Insel zurück. Im Kern verbirgt sich dahinter ein romantischer Ansatz; gerade weil Illés die Welt nicht ausblendet, sondern sie mit bizarrer Intensität indirekt reflektiert und kommentiert. Auch seine Sehnsucht nach Eindimensionalität und Einfachheit, die sich in Form kleiner Klanginseln Bahn bricht, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Erst im Kontrast mit hoher Komplexität kommt diese Einfachheit überhaupt zur Geltung. Um diese Spannung zu kontrollieren, aber auch pointiert zu artikulieren, zielt Illés beim Komponieren auf größtmögliche Präzision, die sich auch in dem 2006 begonnenen «Torso»-Zyklus abzeichnet. Dieser Zyklus baut auf den Scene polidimensionali auf, setzt aber andere Schwerpunkte. Dafür entwarf er ein Verfahren, das am Torso als Sinnbild für kompakte Dichte einerseits und das Fragmentarische andererseits orientiert ist. Für alle «Torso»-Stücke kennzeichnend sind zersplitterte Motive und schroffe rhythmische Gestalten, die in einer streng konstruierten, dabei aber von Brüchen durchdrungenen Großform aufgehen. Auch die «Torso»-Reihe korrespondiert, wie schon der aus der Bildhauerei entlehnte Begriff ahnen lässt, mit visuellen Vorstellungen. Energien und ihre Schatten sollen nicht nur hörbar, sondern vor dem geistigen Auge auch sichtbar werden – so in dem Klavierstück «Torso II» (2006), das einem Prinzip folgt, das Illés als «Energieschatten-Bildung» charakterisiert: Zunächst wird ein überdichtes, mit Energie übersättigtes Motiv-Konglomerat konstant gesteigert, um dann allmählich zu zerbröckeln und, so Illès, «die ’Lücken’ des Torsos mit Energie aufzufüllen».
Anklänge an ungarische Volksmusik als Referenz an seine kulturellen Wurzeln sind in seinen Werken zumeist nur untergründig vorhanden. Eine Ausnahme bildet Scene polidimensionali XVI «…Körök» (Kreise) für großes Ensemble (2008/09). Darin integrierte Illés Volkstänze, die wie Traumbilder auftauchen und wieder entschwinden. Als suggestive Einschübe geraten diese Tänze zu konkreten Projektionen eines geistigen Raumes, in dem er sich ansonsten intuitiv bewegt. Ein Anflug davon findet sich auch in «Rajzok» («Zeichnungen») für 24 Streicher (2010). Das Stück begründet womöglich selbst eine Serie, steht strukturell aber den Scene polidimensionali nahe. Die Instrumente werden umgestimmt und halten – je nach Perspektive – in an- oder absteigender mikrotonaler Reihung jeweils Vierteltonabstand zueinander. Trotz der Bündelung in Vierteltonclustern, die sich schleierartig auffächern, behaupten die Linien auch hier ihre eigene Identität. Aus Urgeräuschen formieren sich explosionsartige Entladungen und feine, an Kalligraphie erinnernde Striche und Kurven, die im Streben nach Transparenz und Klarheit der Texturen genau ausbalanciert sind. «Melodische oder pseudomelodische Assoziationen» trachtete Illés zu vermeiden, und doch ist ein ungarisches Volkslied eingegangen, das im Verborgenen wirkt und die Farbigkeit der Linien beeinflusst.
Im Schaffen von Márton Illés (*1975) dominieren bislang Ensemblekompositionen. Hier eine Auswahl aus dem Werkverzeichnis des ungarischen Komponisten in chronologischer Reihenfolge: