Nirgends sei der Mensch so sehr Mensch wie beim Spiel, behauptete Friedrich Schiller in "Über die ästhetische Erziehung des Menschen". Wie das klingen könnte? Huihui Cheng geht dem nach. In "Your turn" ("Du bist dran") entwirft sie Regeln und Aktionskarten für ein Spiel, das ähnlich wie das französische "Ouga Bouga" oder das deutsche "Kofferpacken" auf dem Wiederholen und Hinzufügen von immer mehr Worten beruht: Ein Spieler legt eine Karte, spricht das darauf notierte Wort und zeigt auf einen anderen Spieler, der mit einer neuen Karte weitermacht und dabei beide Worte wiederholt. So setzt sich die Reihe fort, macht jemand einen Fehler, wird das mit einem Zwischenruf der Mitspieler quittiert und der Spieler erhält zur Strafe alle gespielten Karten.
Soweit das Grundgerüst. Huihui Cheng gestaltet (unterstützt von der Grafikerin Karin Kraemer) die Wortkarten nun unterschiedlich, manche bezeichnen eher Vokalaktionen als Silben, manche können von mehreren Spielern zugleich ausgeführt werden.
Und es gibt weitere Karten: solche, die statt Worten oder Klängen Gesten vorgeben, solche, die etwas im Regelwerk verändern und solche, die das Publikum miteinbeziehen.
Wie bei Pokerrunden im Fernsehen wird das Spiel gefilmt und auf Leinwand in den Zuschauerraum übertragen, sichtbar sind dort auch die verdeckt liegenden Karten der einzelnen Spieler. Kommt nun eine speziell gekennzeichnete Publikumskarte zum Einsatz, reagieren die Zuschauerinnen und Zuschauer als Mitspielerinnen und Mitspieler bzw. Kommentatorinnen und Kommentatoren des Spiels. Ganz grundsätzlich werden auch sie aufgefordert etwaige Fehler der Spielenden durch Zwischenrufe unverzüglich zu melden. Die Grenze zwischen Aufführenden und Publikum wird durchlässig, die Komponistin wünscht sich eine punktuelle "Gemeinschaft zwischen den Interpretierenden und den Zuschauerinnen und Zuschauern".
Doch Huihui Cheng belässt es nicht bei diesem Regelwerk und dem Laut- und Gestenarsenal. Sie spielt das Spiel selbst durch, komponiert eine den Interpretinnen und Interpreten minutiös vorgegebene Show- oder Bühnenvariante. Den einzelnen Spielerinnen und Spielern weist sie Charaktere zu: es gibt virtuose schnelle Kandidatinnen und Kandidaten und solche, die häufig Fehler machen. Häme und Spott gegen die Verliererinnen und Verlierer sind ebenso einkomponiert wie Triumph und Freude. Und zunehmend werden die Aktionen der Spielerinnen und Spieler musikalisch – sie singen vorgegebene Rhythmen und Phrasen, später auch selbst gewählte Lieder an klar vorgegebenen Stellen des Spiels, das damit immer artifizieller wird. So wird "Your turn" akustisch, aber vor allem auch strukturell ein, wie Huihui Cheng formuliert, "in Musik übertragenes, durch Zufall geprägtes Spiel mit Gegnerschaft und Gemeinsamkeit". Auch wenn sie den Zufall in der Aufführungsversion weitgehend (heimlich) durch eine Partitur ersetzt, kommt ein nicht kalkulierbares Moment spätestens durch die Publikumsbeteiligung wieder hinein.
Was aber ist die Quintessenz für die Hörerinnen und Hörer, die bei Huihui Cheng auch immer als Zuschauende gedacht sind? Haben wir in einer Aufführung von "Your turn" ein Kunstwerk wahrgenommen oder voyeuristisch einem quasi-privaten Spieleabend beigewohnt? Die Antwort wird bei verschiedenen Hörerinnen und Hörern unterschiedlich ausfallen; die Reflexion darüber ist Teil des Spiels.
Your turn!