Besonderheiten neuer Musik

Neue Musik: Was ist das eigentlich?

Musik ist eine Kunstform aus Tönen. Schon diese einfache Definition wird in der neuen Musik in Frage gestellt. Da diese Musik ständig Neues sucht und sich mit den Entwicklungen der Zeit ändert, entzieht sie sich starren Definitionen. Das macht sie spannend. Die Begriffe zeitgenössische und aktuelle Musik werden synonym zu neue Musik verwendet. Neben den uns bekannten Tönen, wie sie etwa auf der Tastatur eines Klaviers festgelegt sind, gibt es auch andere hörbare Elemente, die Teil des Musikstückes sein können. Alle akustischen Ereignisse, z.B. auch Geräusche oder elektronische Klänge, sind in der neuen Musik gleichberechtigt und werden in besonderer Weise angeordnet, je nachdem was der Komponierende ausdrücken will. Der klanglichen Vielfalt sind dabei keine Grenzen gesetzt, ob quietschende Autoreifen, klirrendes Glas oder das knarzende Holz eines Violinkorpus.

Unter Neuer Musik (mit großem „N“) wird meist die „moderne Musik“ des 20. Jahrhunderts verstanden, daher nutzen wir auf unseren Seiten die Schreibweise der "neuen Musik" (siehe ausführliche Definition unter "Was ist zeitgenössische Musik"). Bei anderen Verfasser:innen, wie zum Beispiel in einigen Schulbüchern und ebenso in den Veröffentlichungen des Helbling-Verlages (so auch im Starterkit Abenteuer Neue Musik) wird aber die Neue Musik mit großem "N" geschrieben. Hierbei ist dann nicht nur die moderne Musik, sondern auch die Musik unserer Zeit gemeint und wird somit synonym zur Schreibweise mit kleinem "n" verwendet.

Musikerfinder:innen

Komponist:innen neuer Musik stellen einfach alles in Frage, was man gemeinhin mit Musik verbindet: Die Tonalität wird aufgehoben, die Form wird frei gestaltet, die klassische Aufführungssituation in einem Konzertsaal wird aufgebrochen. In dieser Hinterfragung steckt enormes kreatives Potenzial: Für die Rezipient:innen bietet es neue Hörerfahrungen und Perspektiven, die Welt zu betrachten. Die Kompositionsarbeit beinhaltet klangliche Experimente, die Neuordnung von musikalischen Parametern und das Zusammenstellen bzw. die neue Kontextualisierung von bekannten akustischen Ereignissen.

Schräge Töne? Erweiterung der Tonalität

In der neuen Musik spielen das Dur-Moll-System und die dazugehörigen Regelprinzipien keine Rolle mehr. Konsonanzen und Dissonanzen sind gleichberechtigt. Auf diese Weise werden alle vorstellbaren Tonkombinationen möglich. Für daran nicht gewöhnte Ohren kann das ganz schön schräg klingen. Neben den in der westlichen Musik gebräuchlichen Ganz- und Halbtönen gibt es in der neuen wie auch außereuropäischen Musik differenziertere Tonwerte, z.B. Vierteltöne, die nur halb so groß sind wie Halbtöne. Hier muss sich unser Ohr mehr anstrengen, um die Unterschiede noch wahrzunehmen. Man spricht dabei von Mikrotonalität. Die Umsetzung dieser Noten ist für einige Instrumente unproblematisch, wie etwa für Streichinstrumente, da hier die Saiten an einem beliebigen Punkt abgegriffen werden können. Bei anderen Instrumenten, wie etwa dem Klavier, gestaltet sich das schwieriger. Deshalb wird in der neuen Musik oft auch im Inneren eines Flügels gespielt, um direkt an die Saiten zu gelangen.

Vorreiter in der Loslösung vom tradierten Dur-Moll-System war Arnold Schönberg (1874-1951): Mit den Drei Klavierstücken op. 11 (1909) etwa, vor allem op. 11 Nr. 3, lieferte er das Paradestück der frei atonalen Musik. Dies war der entscheidende Schritt für eine Öffnung der Musik, der die Grundlagen schuf für eine größere kompositorische Freiheit und Vielfalt der klanglichen Erscheinungen.

Zum Cello gehört ein Bogen? Ungewöhnliche Klangerzeugung

Wer sich vorstellt, wie ein Violoncello gespielt wird, hat einen Bogen vor Augen, mit dem die Saiten gestrichen werden oder imaginiert, wie ein Pizzicato gezupft wird. Zur Art und Weise wie ein Klang erzeugt wird haben unsere Komponist:innen eigene Ideen. So können im Fall des Cellos etwa die Saiten mit anderen Gegenständen angerissen werden, Präparationsmaterialien, die den Klang verändern, werden an den Instrumenten angebracht oder die Komponist:innen entwickeln sogar Motoren, die die Klangerzeugung zum Teil automatisiert übernehmen.

Lisa Streich hat z.B. Motoren am Cello angebracht, die ungewohnte Klänge hervorbringen. Der Interpretierende reißt manchmal zudem die Saiten mit der Rückseite des Bogens an, sodass neben Tönen auch Geräusche entstehen.

Musik ohne Instrumente - Konzepte

Manchmal kommt neue Musik aber auch ganz ohne herkömmliche Musikinstrumente aus. Materialien und Räume des Alltags werden etwa auf ihre klanglichen Funktionen untersucht. Unsere Wahrnehmung der uns umgebenden Welt und die Rezeption von Musik stehen dabei oft im Interesse des Komponierenden. Das Konzept wird zum Ausgangspunkt der Komposition. In Frage wird gestellt, wie Musik normalerweise erzeugt wird? Was nehmen wir sonst noch an Klängen wahr? Wie können die Klänge in einem kompositorischen Akt miteinander verbunden werden kann?

Es gibt sogar Musikstücke, bei denen Stille das wesentliche Gestaltungsmittel ist. So hat John Cage in 4,33‘ vorgegeben, dass die Musiker gar nichts machen. Auf diese Weise entsteht aber etwas ganz Anderes: Man achtet auf die Geräusche, die vom Publikum ausgehen.

Simon Steen-Andersen untersucht in seiner Komposition „Run Time Error“ die Gegebenheiten, des ihn umgebenden Raumes und ordnet diese Klänge so, dass sie eine spannungsreiche Gesamtkomposition ergeben.

Geheimnisvolle Notationen - Partituren

Partituren neuer Musik sehen oft ganz anders aus als die Noten klassischer oder populärer Musik. Mikrotöne wie auch andere Arten von Klängen müssen ebenfalls notiert werden. Auch der Einsatz besonderer Klangerzeuger oder Präparationsmaterialien wird vermerkt. Oft kommen etwa Schmirgelpapier oder auch Styroporklötze zum Einsatz. Und dann müssen die Musikerfinder:innen natürlich beschreiben, wie sich der Klang anhören und wie er gespielt werden soll (z.B. reiben, kratzen). Während in einer herkömmlichen Partitur die Noten innerhalb des Notenliniensystems festgehalten werden, gibt es weitere grafische Formen und Zeichen in der neuen Musik, die sich die Komponist:innen selbst überlegen müssen. So werden beispielsweise Spannungsverläufe in Linien oder Strukturen wiedergegeben.

Die grafischen Partituren von Iannis Xenakis erinnern zum Beispiel eher an architektonische Zeichnungen. Zu György Ligetis Werken wurden hier die musikalischen Strukturen durch eine grafische Notation sichtbar(er) gemacht.

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