Arnulf Herrmanns Musik gewinnt ihren poetischen Reichtum aus genuin musikalischen Fragestellungen. Sie inszeniert dramaturgische Verläufe auf der Grundlage präzise umrissener Gestalten, denen etwas widerfährt, was sich am ehesten in physikalische Metaphern fassen lässt: Sie werden verformt und verbogen, sie zersplittern und implodieren, kurz: sie gleichen Körpern, auf die eine Kraft einwirkt.
Darüber hinaus sind diese Gestalten in ein Geflecht von Beziehungen eingespannt, in eine Grammatik, die sämtliche Größenordnungen der Komposition – von der Gesamtform bis hinunter zu den kleinsten Verästelungen der Detaildisposition – umgreift. Dadurch konstituiert sich ein mehrdimensionaler kompositorischer Raum, in dem das gerade erklingende Einzelereignis und der übergeordnete Verlauf durchgängig aufeinander bezogen sind: Jede kompositorische Entscheidung hat Konsequenzen auf jeder Ebene des Satzes. Dem Komponisten liegt also nichts an der Ausstellung von Objekten, er schafft keine klanglichen Stillleben. Sein Interesse richtet sich vielmehr auf die Interaktion von Detail und Ganzem, auf die Vielzahl der Konsequenzen, die sich in jedem Moment aus einer gegebenen Anordnung ziehen lassen.
In Arnulf Herrmanns Ensemblestück "Fiktive Tänze" (Erster Band, 2008) besteht diese Anordnung einer inszenierten Subversion: der Konfrontation eines sehr regelmäßigen metrischen Ablaufs im Großen mit seiner zunehmend irregulären Ausfüllung.
Der erste Satz ("Gerader Tanz") exponiert ein dem gesamten Werk zugrunde liegendes einfaches Bewegungsmodell von zwölf Vierteln, das in der Folge wiederholt, zugleich aber mehr und mehr ausgehöhlt wird. Dieser Aushöhlungsprozess bestimmt die Dramaturgie des gesamten Stücks.
Der dritte Satz ("Kurzer Rausch") bewahrt das Modell zwar noch in Umrissen, in seinem Inneren aber beginnt es zu erodieren – der Untertitel "Schiefe Perioden" bringt es auf den Punkt. Unterschiedliche, übereinander gelagerte Mikrotempi und irreguläre metrische Aufteilungen lassen die etablierte Ordnung wanken; sie gerät aus dem Lot, um schließlich im letzten Satz ("Schwieriger Tanz") endgültig zu kollabieren: Zwar bleibt das metrische Gerüst (die Eins des Taktes) auch hier noch gewahrt, jedoch nur als gleichsam entkernte Hülle. Die Gestalten, die es ausfüllen, folgen einem komplexen variativen Verfahren, bei dem niemals die gleichen Motive aufeinander folgen – der Regelmäßigkeit im Großen kontrastiert hier eine maximale Unvorhersehbarkeit auf der Detailebene.
Was in den Fiktiven Tänzen geschieht, lässt sich somit einerseits als immanent musikalische Problemstellung formulieren – in den Worten des Komponisten: "Wie kann sehr Unregelmäßiges scheinbar regelmäßig wirken und umgekehrt sehr Regelmäßiges scheinbar unregelmäßig?" –, andererseits steckt in dem kalkulierten Aus-dem-Ruder-Laufen ein theatralischer, ja komödiantischer Kern: Eine Situation gerät außer Kontrolle, und alle Bemühungen der Beteiligten, die Ordnung zu wahren oder wiederherzustellen, bewirken einzig das Gegenteil, nämlich Eskalation und Katastrophe. Das ist nicht nur ein Grundmuster der Bühnenkomik, für das es unzählige Beispiele gibt (von Karl Valentins "Der Firmling" bis zu Rowan Atkinsons "Mr. Bean") sondern eine universale dramaturgische Struktur – weswegen es in den Fiktiven Tänzen auch durchaus etwas zu lachen gibt.