Clara Iannotta wurde 1983 in Rom geboren. Studiert hat sie in Mailand am Conservatorio Giuseppe Verdi bei Alessandro Solbiati und in Paris am Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse bei Frédéric Durieux sowie am IRCAM (Institut de recherche et coordination acoustique/musique). Danach wechselte sie zu Chaya Czernowin an die Harvard University nach Cambridge/Massachusetts, wo sie ihre Ausbildung abschloss. Seit 2014 ist sie neben ihrer kompositorischen Arbeit als Kuratorin tätig: als künstlerische Leiterin der „Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik“. Inzwischen lebt Clara Iannotta in Berlin.
Ihre Porträt-CDs „A Failed Entertainment“ (Werke 2009 – 2014) und „earthing“ – letztere eingespielt vom JACK Quartet und 2020 in der Edition zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats erschienen – wurden mit Plätzen auf der Bestenliste der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Ihre neueste CD stammt aus dem Jahr 2021 und enthält größer besetzte Stücke. Clara Iannottas Werke sind auf den wichtigen Festivals für Neue Musik präsent. Zahlreiche Aufführungen europaweit zeugen von ihrer Bedeutung für das zeitgenössische Musikleben.
2013 war Clara Iannotta Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), 2014 der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen und 2018/2019 der Villa Medici in Rom. Auch erhielt sie mehrere wichtige Preise, darunter den Berlin-Rheinsberger Kompositionspreis (2014), den Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart (2014), den Paul-Hindemith-Preis (2018), den Förderpreis Komposition der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung (2018) und den Premio Una Vita nella Musica – Giovani (2019).
Clara Iannotta schreibt für renommierte Ensembles, Solist:innen und Orchester, etwa für das Quatuor Diotima, das Trio Catch, das Ensemble 2e2m, das Arditti Quartet, das Ensemble Intercontemporain, das Klangforum Wien, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, das Münchener Kammerorchester, das Ensemble Nikel und das WDR Sinfonieorchester Köln.
„Mein Vater hat uns Kindern Spielzeug verboten. Papa wollte, dass wir uns es selbst bauen. Er hat uns dann ein altes Telefon oder einen kaputten Toaster gegeben und ihn vor unseren Augen auseinandergenommen. Dann wollte er, dass wir alles wieder zusammensetzen. So habe ich mir meine Welten gebaut, Dörfer bewohnt von kleinen Männchen aus Drähten und Kabeln. Und ich habe gelernt, nie nur das Objekt zu sehen, sondern immer auch dessen Potenzial. Und genauso mache ich das in meiner Musik.“ (Clara Iannotta)
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass der Aspekt der Klangforschung in Clara Iannottas Musik eine zentrale Rolle spielt. Zugleich hat sie sich ihre kindliche Neugier bewahrt. Die italienische Komponistin geht den Klängen auf den Grund, lotet ihre Konsistenz und Entwicklungsmöglichkeiten in alle Richtungen aus, lässt ihnen aber auch Entfaltungsspielräume – als seien sie Lebewesen, die sich aus verschiedensten Quellen und Urgründen ihre eigenen Wege suchen; von ihr behutsam in die „richtigen“ Bahnen gelenkt. Dimensionen des Seelischen und Unbewussten sind bei dieser Herangehensweise Voraussetzung und Begleiterscheinung des schöpferischen Prozesses. Diese Dimensionen werden hörbar und sichtbar, verwandeln sich aus den Bezirken des Psychischen und abstrakt Gedanklichen in körperlich fühlbare, in erlebbare Phänomene: Der Klang nimmt Gestalt an, auch wenn diese „Gestalten“ nicht gerade mit der Tür ins Haus fallen, sondern – in auratischer Umhüllung – in subtile Gefilde locken, entführen, entrücken.
Schon Clara Iannottas Partituren sind anders, ohne dass sie prinzipiell von den mannigfaltigen, hochgradig individualisierten Notationsverfahren in der Neuen Musik abweichen würden. Zwar enthalten sie mitunter ans Zeichnerisch-Grafische erinnernde Elemente, doch diese stehen im Dienst möglichst präziser Artikulierung ihrer klanglichen Wunschvorstellungen. Der Unterschied zu den Partituren anderer zeitgenössischer Komponist:innen liegt in der Transparenz, in der lichten Durchlässigkeit der Konstellationen, der Choreografien ihrer Zeichen und Symbole, die sich in der Zartheit ihrer Musik markant spiegeln. Die Klänge füllen den Raum, ohne ihn zu erobern, sie beherrschen ihn, ohne sich aufzudrängen. Jenseits aller äußerlichen Effekte erzielen sie Aufmerksamkeit, ja, sie ziehen in den Bann und regen unweigerlich die Wahrnehmung an. Das alles geschieht langsam, in extremer Dehnung und Ruhe; allmählich fallen Raum und Zeit in eins zusammen, eröffnet das Versinken in Iannottas Klänge eine eigene Welt – eigentümlich schwebend zwischen Fremdheit und Vertrautheit, Nähe und Ferne, Traum und Albtraum.
Fixe Tonhöhen, Mikrotöne und Geräusche sind in ihrem Klangkosmos vollkommen gleichberechtigt; ebenso das Hören und das Sehen – bei rein akustischer Rezeption wird das innere Auge angesprochen. Musik anderer Komponist:innen, Zitate oder konkrete Anspielungen an die Tradition meidet Clara Iannotta; bis auf eine Ausnahme, als sie 2014, in einer kompositorischen Krise, für das Auftragswerk "dead wasps in the jam-jar (i)" die Bedingung akzeptierte, sich auf Johann Sebastian Bachs "Partita Nr. 1" für Violine solo in h-Moll BWV 1002 einzulassen – und zwar auf die rasante Courante und deren Double aus dieser Partita, die eine fruchtbare Gegenspannung zum Duktus ihrer eigenen Musik aufbauten.
Räume und Träume
Wesentliche Ausgangspunkte für ihre Werke sind – statt musikalischer Anleihen, einzelne Worte, Zustände, Emotionen – die Gedichte der irischen, 2004 verstorbenen Autorin Dorothy Molloy, aus deren Lyrik Clara Iannotta ihre Stücktitel ableitet, oder ein einzelner Klang im Kopf, der sie nicht loslässt. Diesem Klang spürt sie bis zu dessen genauester akustischer Realisierung akribisch nach. Dafür experimentiert sie mit Instrumenten, mit Präparationen, mit Elektronik – und diese Forschungsarbeit am Klang ist ein wesentlicher Aspekt ihres Komponierens.
Ein eindringliches Beispiel für eine visionäre bildliche Vorstellung als erstem Impuls für ein Werk ist das 2015 entstandene "Troglodyte Angels Clank By" für verstärktes Ensemble. Der Titel entstammt wiederum einem Poem von Dorothy Molloy. Die Komponistin imaginierte einen dunklen Raum, der mit flirrenden Staubpartikeln gefüllt ist. Nur träge gewöhnt das Auge sich an die Düsternis, sachte nehmen die Staubwolken Konturen an, differenziert sich die Schwärze des Raums in verschiedene Schattierungen aus. Aufgebrochen wird die diffuse Stimmung von einer einzelnen Geste, einem jäh einfallenden „Lichtstrahl“, der alles verändert, der radikal neue Perspektiven erschließt – als würde die Sonne gleißend die Schleier der Nacht zerreißen oder im Abgrund tiefer Melancholie eine überraschende Begegnung Glückseligkeit verheißen.
Ist es in "Troglodyte Angels Clank By" ein plötzliches Ereignis, das einen einschneidenden Wandel hervorruft, so sind es in Iannottas Musik ansonsten zumeist kontinuierliche Vor- und Fortgänge, die sowohl die inneren Strukturen als auch die klanglichen Außenhäute definieren. An der Musiktradition geschulte Behandlung von Themen und Motiven kommt bei ihr so gut wie nicht vor. Vielmehr wird das aus einem Klang, einem Bild, einer Idee, einer Vorstellung oder eben einem einzelnen Wort generierte Material umkreist, durchleuchtet, umgeschichtet, gefiltert, auf- und abgeladen, be- und entschleunigt, zu einem komplexen Klanggespinst verdichtet oder in seine Bestandteile pulverisiert.
Vorgefasste Geschichten erzählt Clara Iannotta mit ihren Kompositionen nicht. Aber ihre Musik beflügelt die Fantasie, motiviert dazu, (die) eigene Geschichte(n) zu erleben, tief in Räume und Träume der eigenen Wahrnehmung einzutauchen und das Ohr – und den Geist – auf Entdeckungsreisen zu schicken. Begleiterinnen auf dieser Wanderschaft in unbekanntes Terrain sind die ungeheure Sensibilität der klanglichen Vernetzungen und die Simultaneität von Rauheit und Sinnlichkeit, von verborgenem Charme und inneren Energieströmen. Clara Iannottas Musik ist voller Geheimnisse; sie stilisiert sich aber nicht zur mystischen Sphäre, sondern appelliert mit der Erkundung jedes Tons, jedes Geräuschs an die Eigenschaften und die Bedeutung der Klänge um ihrer selbst willen. Das erfordert von den Hörer:innen zwar eine hohe Einlassungsbereitschaft, belohnt im Gegenzug aber mit einem breiten Spektrum an Reizen, Assoziationen, Empfindungen.
Die Werke von Clara Iannotta erscheinen bei der Edition Peters.
Orchesterwerke
dead wasps in the jam-jar (ii) (2016) für Streichorchester
Moult (2018/19) für Kammerorchester
Memory jolts. Flashes of pink in the brain (2020/22) für Streichorchester
Darker Stems für Kammerorchester und Elektronik (2022)
Konzerte
where the dark earth bends (2022) für 2 Posaunen, Orchester und Elektronik
Kammermusik
siciliana-miniature (2009) für Violine, Viola und Violoncello
Al di là del bianco (2009) für Klarinette, Violine, Viola und Violoncello
Il colore dell’ombra (2010) für Violine, Violoncello und Klavier
Limun (2011) für Violine, Viola und 2 Umblätterer
Àphones (2011) für Ensemble
D’après (2012) für 7 Instrumente
Clangs (2012) für Ensemble
The people here go mad. They blame the wind (2013) für Bassklarinette, Violoncello, Klavier und 12 Musikboxen
3 sur 5 (2013) für Schlagzeug und Akkordeon
A Failed Entertainment (2013) für Streichquartett
Intent of Resurrection – Spring or some such thing (2014) für großes Ensemble
paw-marks in wet cement (ii) (2015) für Klavier, 2 Schlagzeuger und verstärktes Ensemble
Troglodyte Angels Clank By (2015) für verstärktes Ensemble
dead wasps in the jam-jar (iii) (2017/18) für präpariertes Streichquartett und Sinuswellen
Earthing – dead wasps (obituary) (2019) für präpariertes Streichquartett, Transducer und Elektronik
Eclipse Plumage (2019) für Klavier, Flöte (mit Objekten), Bassklarinette (mit Objekten), Schlagzeug, Violine, Viola uns Violoncello
You crawl over seas of granite (2019/20) für verstärktes Streichquartett in veränderter Stimmung
They left us greef-trees wailing at the wall (2020) für 9 verstärkte Instrumente
A stir among the stars, a making way (2020) für großes Ensemble
echo from afar (ii) (2022) für Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine, Violoncello und Elektronik
Solowerke
dead wasps in the jam-jar (i) (2014) für Violine solo
Interdisziplinäre Arbeiten
skull ark, upturned with no mast (2017/18) für 4 Performer, Installation, Licht, Bewegungen, Objekte und Elektronik – mit Anna Kubelik (Architektur) und Eva G. Alonso (Lichtdesign)
Outer space (2018) für Bariton-Saxophon, Schlagzeug, E-Gitarre, Objekte, Film und Elektronik – mit Ensemble Nikel
M/R (2022) Performance mit Musik, Licht und Bildern
Konzept: Clara Iannotta, Chris Swithinbank und Eva G. Alonso