Carsten Hennig | Kadenzes

Carsten Hennig

Über Komponist und Werk

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Unterrichtsprojekt

von François Förstel + Dr. Karin Sousa

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Material

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Kadenzes – 13 Fälle

aus: Porträt-CD Carsten Hennig der Edition Zeitgenössische Musik


Werkeinführung von Björn Gottstein

Wie in den meisten seiner Kompositionen sucht Hennig auch in "Kadenzes" (2001) eine erzählende Perspektive. Er komponiert musikalische Strukturen, die der Logik des Erzählens folgen und die den Klang mit Bedeutung aufladen.

Das eigentliche Thema der "Kadenzes" ist das Fallen in all seinen – musikalischen und außermusikalischen – Facetten. Es geht Hennig dabei um die "Semantik des Klangs", um akustische Chiffren und Archetypen des Fallens. Vom Straucheln und Taumeln über den Sturz bis zum Verschwinden spielt Hennig alle denkbaren Fälle des Falls durch. Die Musik haucht sich im Diminuendo aus, verflüchtigt sich im Ritardando, lebt sich vor allem aber in bodenlosen Glissandi und abwärts stolpernden Läufen aus, die Hilf- und Haltlosigkeit suggerieren. Aber man fällt natürlich nicht ohne Fallhöhe, und deshalb müssen immer wieder Materialien geschichtet und "aufgetürmt" werden, "bis sie die Welt verdunkeln." In ihrem Höhepunkt gegen Ende des Werkes ergießt sich die Musik dann in einer "Niagarafall-Situation, in der wirklich alles den Bach runter geht." (Hennig)

Die Protagonistin des Stückes ist eine in mehrfacher Hinsicht Gefallene: sie ist von Verlustängsten gebeutelt und sozial isoliert. Die Sängerin steht bei der Aufführung auch deshalb vor dem – oder besser: außerhalb des Ensembles. Sie wird auch räumlichen ausgegrenzt. Die Instrumente begleiten die Sängerin aus der Distanz, stützen sie gelegentlich, kommentieren ihr Schicksal oder fallen empathisch mit ihr herab.

Einen Zug ins Surrealistische verleiht Hennig dem Stück, indem er in dem von ihm selbst verfassten "Libretto" frei zwischen den Sprachen optiert und deutsche, englische und französische Homophone über jede Wortbedeutung hinweg aneinander kettet: fallen, ich fiel, I feel, je suis felée. "Gesuchte Fehler" nennt er diese Wortspiele, in denen das erratische Irren der Protagonistin ihren Ausdruck findet, die vor allem aber den Bedeutungsraum des Werks weiten und der Partitur etwas Verspieltes, Freies verleihen. Schon der Titel ist deshalb, halb Deutsch, halb Englisch, als "Kauderwelsch" angelegt, um das Mehrschichtige und das Irrationale im Werk anzudeuten.


13 Fälle

Annäherung an das Werk

Genau so fange auch er an zu arbeiten, pflichtet der Komponist bei, mit einer elementaren, einfachen Bewegung nämlich. Die Klasse 9 hatte sich im Musikunterricht warm gemacht, hatte sich allmählich erhoben und gestreckt, um nach den Sternen zu greifen und war jäh wieder abgestürzt, war sprunghaft emporgeschossen und taumelnd gen Abgrund geglitten.

Die Gesten dieser Übung waren natürlich nicht zufällig gewählt, sondern sollten vorbereiten auf ein Stück, das mit eben diesen Bewegungsmustern zu tun hat: "Kadenzes – 13 Fälle für Frauenstimme und Ensemble" von Carsten Hennig. Das Thema dieses Stücks ist das Fallen – als Figur, als eine musikalische Floskel oder gar als Schicksalsschlag. Die Protagonistin des Stückes, die Sopranistin, ist eine in mehrfacher Hinsicht Fallende und Gefallene. Sie fällt zum Beispiel musikalisch-körperlich; gleich die ersten Töne wecken den Eindruck des Strauchelns und Stürzens. Sie wird aber auch von Verlustängsten gebeutelt und ist sozial isoliert, "wie jemand, der Drogen nimmt und dann unter dem Entzug leidet, aber auch darunter, dass sie aus den gesellschaftlichen Konventionen herausfällt" (Hennig).

Hennig hat diese vielfältigen Situationen, die "13 Fälle", anschaulich umgesetzt – mit Tönen, aber auch mit seinem mit Wortspielen gespickten Libretto, so dass es der Schulklasse leicht fällt, sich der Musik über Bilder und Geschichten zu nähern. Von einem Überfall ist da bei den Schülerinnen und Schülern die Rede, von einer wilden Achterbahnfahrt oder einer Gefangenen, die vor ihrem Sprung in die Freiheit steht. Auch wenn sich das Stück in solchen Assoziationen natürlich nicht erschöpft, kommen sie der Musik doch sehr nahe. Es sei auch ihm um eine spannende Geschichte, um eine lebensnahe und existenzielle Situation gegangen, stützt Hennig die Interpretationsversuche der Schülerinnen und Schüler, auch wenn er sich natürlich nicht auf ein bestimmtes Handlungsschema festlegt.

Ein Glücksfall für den Unterricht ist Hennigs Kadenzes auch deshalb, weil sich das Sujet des Fallens über die ganze Musikgeschichte hinweg nachvollziehen lässt und zum Beispiel auch im Zusammenhang mit dem Anfang der Sonate "Pathétique" von Beethoven oder dem "Sisyphos-Mythos" gebracht werden kann. Gleichzeitig fällt es den Schülerinnen und Schülern leicht, eigene musikalische Ideen zu entwickeln. Sie erfinden kleine Performance-Elemente und improvisieren gemeinsam über den Verlauf einer Börsenkurve, um mit ihren Instrumenten nicht einfach auf- und abwärts zu gleiten, sondern auch Intensitäten des Glücks und der Trauer in die Musik hineinzulegen. Die Schülerinnen und Schüler kommen dabei, wie der Lehrer Francois Förstel ganz richtig beobachtet, von ganz allein auf Klanglichkeiten, die denen der neuen Musik ähneln.

Alle genannten Aspekte haben wesentlich dazu beigetragen, den Schülerinnen und Schülern den Zugang zu Carsten Hennigs "Kadenzes" nicht nur zu erleichtern, sondern als ganz und gar unproblematisch zu gestalten. Die Möglichkeit, der Musik als Bewegung, als Geschichte oder als Ausgangspunkt der eigenen musikalischen Aktivität zu begegnen, ließ keinen Raum für vorurteilsbeladene Ablehnung. Natürlich hat auch die Anwesenheit des sympathischen und aufgeschlossenen Komponisten seinen Teil dazu beigetragen. Die Schülerinnen und Schüler haben nicht nur gelernt, dass auch Komponisten Menschen sind, die sich morgens die Zähne putzen und nachmittags mit ihrer Tochter auf den Spielplatz gehen, sondern haben wohl auch begriffen, dass das, was Hennig in Kadenzes musikalisch schildert, kein abgehobenes und abstraktes Geplänkel, sondern authentisch und echt empfunden ist.

Björn Gottstein

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