Biografie

Geboren wurde Vito Žuraj 1979 in Maribor, der mit knapp 100.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt Sloweniens. Schon sehr früh kam er im Elternhaus – der Vater ist Chorleiter und Komponist – mit Musik in Berührung und lernte Klavier- und Cellospielen. Zum Kompositionsstudium ging er 1997 an die Musikakademie nach Ljubljana zu Marko Mihevic.

Schon vor seinem Abschluss dort (2002) studierte er, ermöglicht durch einen Erasmus-Austausch, ab 2001 zunächst parallel Komposition in Dresden bei Jörg Herchet, ab 2002 dann bei Lothar Voigtländer. 2004 wechselte Žuraj zu Wolfgang Rihm nach Karlsruhe, wo er von 2006 bis 2009 noch ein Studium der Musikinformatik bei Thomas A. Troge anhängte.

Während er, nach eigener Darstellung, in Ljubljana vornehmlich «aus dem Bauch heraus» musizierte, beschäftigte er sich in Deutschland eingehend mit der Erforschung musikalischer Strukturen, woraus er weit reichende Konsequenzen für sein eigenes Schaffen zog. Ein weiterer entscheidender Schritt in seiner künstlerischen Entwicklung war die Aufnahme Žurajs als Kompositionsstipendiat in die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) im Jahrgang 2009/2010. Die intensive Auseinandersetzung mit den anderen Stipendiaten und den Musikern des Ensemble Modern empfand er als wesentliche Bereicherung, zumal er mit diesem Ensemble Modern, vor allem mit einzelnen Solisten wie dem Hornisten Saar Berger, bis heute zusammenarbeitet.

Seit 2007 hat er einen Lehrauftrag für Instrumentation, Orchestrierung und Notation in der Neuen Musik und Gregorianischen Choral an der Karlsruher Musikhochschule. An der Musikakademie in Ljubljana trat er 2016 eine Professur für Komposition und Musiktheorie an, womit sich der Kreis zum Beginn seiner eigenen Ausbildung schloss. 

2011 nahm Vito Žuraj am Kompositionsseminar der IEMA teil. Von 2011 bis 2013 war er Stipendiat der "Akademie Musiktheater heute" der Deutsche Bank Stiftung, in deren Rahmen er sein erstes Musiktheaterwerk "Orlando. Schloss" schrieb. 

2012 gewann er den Stuttgarter Kompositionspreis für sein Stück "Changeover»" für Instrumentalgruppen und Sinfonieorchester (2011), 2014 war er Jahresstipendiat der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo, 2015 erhielt er das "Arnhold-Stipendium, Position". Mittlerweile erklingen seine Werke international auf Konzertbühnen und Festivals, nicht nur auf Spezialfestivals für Neue Musik wie Ultraschall Berlin, "cresc…", Biennale für Moderne Musik Frankfurt Rhein Main, oder den Wittener Tagen für neue Kammermusik, sondern etwa auch bei den Salzburger Festspielen.

Zu Vito Žurajs Interpreten und Auftraggebern zählen Klangkörper wie New York Philharmonic, hr-Sinfonieorchester, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Ensemble Modern, Klangforum Wien, ensemble recherche und RIAS Kammerchor, geleitet von renommierten Dirigenten wie Matthias Pintscher, Johannes Kalitzke, Sylvain Cambreling, Emilio Pomàrico, Beat Furrer, Brad Lubman oder Franck Ollu. Auch in der pädagogischen Arbeit engagiert sich Vito Žuraj seit vielen Jahren.


"Gackernde Enten" und "tanzende Intervalle"

zu Werk und Ästhetik

"Als ich 2006 mein Saxophonkonzert komponierte, saß ich einmal", so Vito Žuraj, "ratlos im Karlsruher Schlossgarten und hörte den gackernden Enten auf dem Teich zu. Sie hatten alle ihre eigenen Impulse, die ich sowohl linear als auch polyphon wahrgenommen habe. Das motivierte mich, die Rhythmen meines Saxophonkonzerts daran anzunähern. Ein anderes Beispiel ist der Petersdom in Rom. Als ich vor Jahren dort war, hielten sich viele Menschen in den Seitenschiffen auf und beteten. Plötzlich organisierte sich deren Gemurmel in meinen Ohren zu einem komplexen Akkord."

Diese harmonische Gestalt ließ Žuraj später als visionäre Verschmelzung einer gebetsartigen Gesangsstimme mit Instrumentalklängen in "Übürall" für Sopran und Instrumentalgruppen (2013) einfließen.

Überraschende akustische Eindrücke wie die Enten im Park oder die Betenden im Petersdom dienen Vito Žuraj immer wieder als Inspirationsquelle für die Erkundung neuer Klangqualitäten, wobei er sich auf seine musikalische Intuition verlassen kann. Dennoch gewannen komplexe Konstruktionsprinzipien in seiner künstlerischen Entwicklung eine immer größere Bedeutung in seinen Werken, ja, Intuition und Konstruktion zu verbinden, geriet zum maßgeblichen Kriterium in seinem Streben hin zu einer höchst individuellen, mikrotonal geprägten Tonsprache. Nach dem Studium in Dresden ging es bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe weniger um Kompositionstechnik als um grundsätzliche ästhetische Fragen: "Wer bin ich? Was will ich? Welche Richtung möchte ich einschlagen?"

Žuraj entschied sich, einen Schwerpunkt auf algorithmische Kompositionsverfahren und auf die Entwicklung eines computergestützten "Notationsassistenten" zu legen, den er seit 2009 verwendet. In der Zeit, so Žuraj, "als ich Musikinformatik bei Thomas A. Troge studierte, generierte ich die Software für meinen Algorithmus. Danach konnte ich mich wieder ganz auf die Kunst konzentrieren. Es ist keineswegs so, dass dieser Notationsassistent mir das Komponieren abnehmen würde. Mein Ziel war vielmehr, meiner intuitiven Kompositionsweise eine Art Gerüst einzuziehen."

Strenge Strukturen und mathematische Gesetzmäßigkeiten wirken in seiner Musik im Inneren und beflügeln seine Klangfantasie, statt sie zu dämpfen oder zu fesseln. Zudem nahm die Kooperation mit den Interpreten einen immer höheren Stellenwert ein: Spätestens seit seiner Aufnahme in die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA), die für Žurajs künstlerischen Werdegang kaum zu überschätzen ist. Sinnfällig griffen seine enge Bindung an die Akademie und die Beschäftigung mit algorithmischen Verfahren ineinander: zum einen das analytisch-experimentelle Eintauchen in die Möglichkeiten der Instrumente und Interpreten bis an spieltechnische Grenzen und darüber hinaus, und zum anderen das Tüfteln mit Software auf der Basis der Programmiersprache MAX/MSP, die rhythmische, harmonische und melodische Eingaben sowohl als kompositorische Grundlage als auch in live-elektronischen Prozessen verarbeitet. Als erstes Ergebnis aus dieser Kombination entstand 2011 "Changeover" für Ensemble und Orchester, eine Raummusik, in der die Klänge sich um das Publikum herum bewegen. Anregen ließ sich Žuraj bei diesem Stück vom Tennisspielen. "Changeover" gehört zu einer Reihe von Werken, deren Titel begrifflich an diesen Sport gemahnen: etwa "Crosscourt", "Tiebreak" oder auch "Top-Spin". "Changeover" bezeichnet beim Tennis den Seitenwechsel, der für die Spieler stets auch zu Perspektivwechseln im Hinblick auf Sonneneinstrahlung, Schattenbildung und Windrichtung führt. Diese Phänomene projizierte Žuraj im Spannungsverhältnis zwischen Geräuschen und fixen Tonhöhen auf Intervalle, Rhythmen und Klangfarben.

Es versteht sich fast von selbst, dass das Tennisspielen in "Changeover" – wie auch in den anderen Kompositionen mit Tennisbezug - nicht tonmalerisch imitiert wird. Žurajs Musik bleibt dem Abstrakten verhaftet, bestimmte Parameter der Sportart verschmelzen im System der Klangstrukturen. Genauso wenig ist dem Stück im Gegenzug anzuhören, dass er es mit Hilfe des besagten "Notationsassistenten" schrieb. Es dominieren vielmehr, wie in Žurajs Musik überhaupt, Klangsinnlichkeit und musikantische Spielfreude. Dies gilt auch für das Hornkonzert "Hawk-eye" (2014), das, wie Žuraj bemerkt, stark vom Austausch mit dem Solisten Saar Berger profitierte: "Wir haben uns über die Geschichte des Horns unterhalten. Warum ist das Instrument so konstruiert, wie werden die Klänge erzeugt, was für einen geschichtlichen Bezug haben sie? Er hat mir auch viel vorgespielt, teils mit Dämpfern, die er selbst gebaut hat, und die daraus gewonnenen Klang- und Gesprächseindrücke flossen in meine Vorstellungen von den Rhythmen, Klangfarben, Tonhöhen und Bewegungsformen ein."

Der Titel "Hawk-eye" rekurriert zumindest indirekt wieder auf das Tennisspielen, handelt es sich bei dem "Falkenauge" doch um ein technisches System zur Ballverfolgung im Sport, um strittige Situationen zweifelsfrei klären zu können, etwa ob ein Ball im Aus war oder nicht. Wie mit einem "Falkenauge" wird auch das Horn in "Hawk-eye" im vielschichtigen Geflecht der Stimmen und Klangflächen verfolgt: Wie es sich seinen Weg bahnt, Widerstände ausräumt, Verbindungen mit anderen Instrumenten aufnimmt, demonstrativ hervortritt, agitiert, lamentiert, ironisiert, mit skurrilen Gesten in den Bann zieht, um sich im nächsten Moment völlig entspannt – vorübergehend – klanglich aufsaugen zu lassen.

Einerseits intensiv mit einzelnen Interpreten zu arbeiten und sich andererseits aber auch immer wieder von überraschenden klanglichen Ereignissen inspirieren zu lassen, ist für Vito Žuraj typisch und durchaus kein Widerspruch, wie er anhand von "Zgübleni" für Alt, Ensemble und Live-Elektronik (2010/2011), das auf einem slowenischen Volkslied beruht, erläutert: "Im Experimentalstudio des SWR in Freiburg haben wir für ’Zgübleni’ mit dem Cello und einem digitalen Bogen experimentiert. Es gab einen pitch shifter (Anm.: Gerät, mit dem Audiosignale verdoppelt und Intervalle generiert werden können), der auf die Koordinaten der Bogenhaltung reagiert. Irgendwann hatte sich ein Sinuston in der Schleife verfangen und begann mit ein bisschen zu kleinen Quinten durch die Intervalle des pitch shifters zu tanzen. Ich habe diese Klänge genau analysiert und anschließend tatsächlich Stücke mit extrem schnellen Quinten- und Quartenverläufen komponiert. Alleine wäre ich wohl nie auf diese Idee gekommen."

Die Werke von Vito Žuraj erscheinen beim slowenischen Musikverlag Edicije DSS. Sein Schaffenszeitraum umfasst mittlerweile fast zwei Jahrzehnte: 

Chorwerke/Vokalmusik

  • O Magnum Mysterium für gemischten Chor (2001)
  • Pegam&Lambergar für gemischten Chor, Orgel und Elektronik (2005)
  • Sprich auch Du für gemischten Chor (2006)
  • Trilogus für drei Soprane (2008)
  • Zur Freude für Kinderchor und Bläserquintett (2010) 
  • Ueaueoi für sechs Männerstimmen (2016) 

Oper

  • Orlando. Schloss, Oper in einem Akt für sechs Stimmen, gemischten Chor, Elektronik und Orchester (2012/2013) 

Werke für Tasteninstrumente

  • Pianofonics für Klavier und Elektronik (2002)
  • Perpetuum für Orgel und Elektronik (2006)
  • Mouvement für Orgel (2007)
  • Best-of-five, fünf Etüden für Orgel (2011)
  • ČMRLJ für Klavier (2011) 
  • Silhouette für Akkordeon (2012)
  • Matrix für Disklavier und Elektronik (2013)
  • Round-Robin für Akkordeon und Live-Elektronik (2014)
  • Etouffée für Klavier (2016) 

Elektronische Musik 

(s.a. Oper, Werke für Tasteninstrumente, Kammermusik und Werke für Ensemble)

  • iSlider für Achtkanal-Elektronik (2007)
  • ODTRG für Achtkanal-Elektronik (2008)
  • Fluctus für Achtkanal-Elektronik (2009)

Kammermusik

  • In Stile orientale für Holzbläserquintett (1998)
  • Space echoes für Flöte, Synthesizer und fünf Schlagzeuger (1999)
  • Memento mori für Sopran und Klavier (2000) 
  • Tango für Flöte und Klavier (2000)
  • Cloop für Altflöte, singende Säge und Schlagzeug (2001)
  • Cadenza per corno (2002)
  • Ruée für Klarinette (2002/2010)
  • Want to practise für Flöte und Horn (2003)
  • The cat für Sopran und Klavier (2004)
  • Concertino für Horn und Bläserquartett (2005)
  • Fragment für Streichquartett (2006)
  • Vokalise für Sopran, Viola da Gamba und Cembalo (2006)
  • Airphones für Saxophonquartett (2007)
  • Deuce für Tenorsaxophon und Schlagzeug (2008)
  • The French Open für Horn (2010)
  • Top Spin für Schlagzeugtrio (2011)
  • Scratch für Streichquartett (2012)
  • Contour für Holzbläserquintett (2012)
  • Rezitativi für hohe Stimme und chromatisches Zimbalon (2012)
  • Warm-Up für Horn und zwei Schlagzeuger (2012)
  • Chrysanthemum für Klarinette, Violoncello und Klavier (2014)
  • Quiet, please für drei Bläsermundstücke (2014)
  • Schub’dry G’rdy für Sopran, Akkordeon, Schlagzeug und Klavier (2015)
  • La femme 100 têtes für Sopran und Kontrabass (2016)

Werke für Ensemble

  • Musica da camera (2001)
  • Kontra (2002)
  • Nachspiel zur letzten Hoffnung (2005)
  • Oktett (2006)
  • Relief für Tenorsaxophon und Ensemble (2007)
  • Quadriptych (2008) 
  • Crosscourt für Ensemble und Elektronik (2008)
  • Reflections (2007)
  • Net Cord für Streicherensemble (2010)
  • Dropshot für zwei Hörner und Ensemble (2010)
  • CourtNr2 (2010)
  • Framed (2011)
  • Re-Slide für Posaune und Ensemble (2012)
  • Restrung (2012)
  • Zgübleni für Alt, Ensemble und Live-Elektronik (2010/2011)
  • Übürall für Sopran und Instrumentalgruppen (2013)
  • Fired-Up (2013) 
  • Insideout für Sopran, Bariton und Ensemble (2013)
  • Overhead für Streicherensemble (2014)
  • Runaround für vier Blechbläser und Instrumentalgruppen (2014)
  • Aftertouch (2015)
  • Moonballs für Holzbläserquintett und Ensemble (2015)

Orchesterwerke

  • Torklya, sinfonische Ouvertüre (1999)
  • Burlesque (2000) 
  • Chopo muerto für Sopran und Orchester (2002)
  • In medias res (2004)
  • Konzert für Altsaxophon und Orchester (2006)
  • Konzert für Klarinette und Orchester (2006/2009)
  • Overgrip (2010)

Gefördert von: